Das Leben war brutaler

Dreieckskonstruktion. Manfred Flügges wahre Geschichte zu „Jules und Jim“  ■ Von Michael Bienert

Eine Liebesgeschichte mag noch so verworren und kompliziert verlaufen, die Grundmuster sind immer einfach. Helen ist eine starke Frau, sportlich, selbständig und leidenschaftlich bis zum Exzeß. In Paris verliebt sich die angehende Malerin in Franz, einen jungen Schriftsteller. Franz ist sanft, ein umgänglicher Lebenskünstler, ein Freund, den Helen heiraten und mit dem sie zwei Söhne haben wird. Aber er ist zu sanft, um ihrem wilden Temperament, ihrem Lebenshunger zu genügen.

Helen betrügt Franz mit anderen Männern. Sie verliebt sich in einen seiner besten Freunde, den sie auch betrügt, um sich an ihm zu rächen. Denn Henri-Pierre ist ein Frauenheld, der mindestens drei Geliebte gleichzeitig braucht. Helen läßt sich scheiden, lebt bei dem Liebhaber, kehrt zu Franz zurück und heiratet ihn zum zweiten Mal, ohne die Abhängigkeit von Henri- Pierre lösen zu können.

Drei Kinder, die sie von ihm hätte haben können, läßt sie abtreiben. Nach zehn Jahren erfährt sie, daß Henri-Pierre inzwischen heimlich eine andere Frau geheiratet und mit einer dritten ein Kind hat. Das klassische Dreieck zerbricht.

„Ich bin doch so für die Nebenumstände, die Hauptsachen sind ja überall dieselben“, lautet eine Lebensmaxime des weisen Franz, der sich vor den Zumutungen des Geschlechtslebens in die Leidenschaftslosigkeit zurückzieht. Wie ein Heiliger verzichtet er auf das Besitzenwollen und kultiviert seine Gabe der Beobachtung, lebt nach dem Motto „ Genieße froh, was du nicht hast“. Diese Haltung gibt seiner spielerisch leichten Prosa die unverwechselbare Farbe, sie hat ihn nach Jahren des Vergessens wieder zu einem intensiv gelesenen Autor gemacht – sein Name ist Franz Hessel.

Henri-Pierre Roché, sein Freund und Rivale, war Kunstmakler, Übersetzer, Journalist und und Schriftsteller. Er hat Hessel vor dem Ersten Weltkrieg in die Künstlerkreise von Montparnasse eingeführt. Hessel seinerseits stellte Verbindungen zur deutschen Literatur her. Rilke, George, Benjamin, Picasso, Apollinaire, Duchamp und andere Koryphäen der Moderne heißen die Randfiguren des deutsch-französischen Liebesdramas.

Der Erste Weltkreig trennt die Freunde und unterbricht den kulturellen Austausch zwischen ihren Ländern. In den zwanziger Jahren betätigen sich beide erneut als Mittler. In dieser Zeit erreicht die Leidenschaft zwischen Henri- Pierre und Helen ihren Höhepunkt. Sie geht 1925 nach Paris und arbeitet bis 1938 als Modekorrespondentin für das führende deutsche Blatt, die Frankfurter Zeitung.

Franz Hessel bleibt in Berlin. Obwohl gefährdet durch seine jüdische Abstammung, harrt er bis 1938 in Deutschland aus. Wenige Tage vor den Novemberpogromen reist er ins französische Exil, wo er 1941 stirbt.

Die Nebenumstände dieser Liebesgeschichte, die so viel spannender sind als die banalen Hauptsachen, hat der Romanist Manfred Flügge zusammengetragen und zu einem schönen Buch verarbeitet. „Pioniere im Land der modernen Seele“ nennt Flügge die Liebenden. Gegen die Widerstände der Zeitgeschichte müssen sie sich den Raum für ihre Liebe erobern.

Als „unmoralisches ethisches Wesen“ charakterisiert Stéphane Hessel, der zweite Sohn Helens, seine Mutter, und diese Bezeichnung trifft auch auf die beiden Männer zu. Sie betrachten ihre Leidenschaften nicht nur als Privatangelegenheit, sondern agieren stets mit dem Hintergedanken, eines Tages ein Buch über ihr Liebesabenteuer zu schreiben. Roché hat ein minutiöses Journal hinterlassen, in das er eines Tages notiert: „Wie Stendhal schreibe ich für künftige Generationen, wenn man einmal sexuelle Dinge in hellem Licht darstellen wird, wenn man von der Berührung der Geschlechtsorgane genauso nuanciert reden und schreiben kann wie von der Berührung der Wangen.“

Ausgelöst durch die Nachricht vom Tod des Freundes, beginnt Roché 1942 mit der Niederschrift eines Romans über die Dreiecksgeschichte. Das Buch, „Jules et Jim“, 1953 erschienen, ist ein Flop: die Zeit ist noch nicht reif für eine deutsch-französische Love-Story. Erst Truffauts Verfilmung kreiert einen Mythos, der bis heute nichts von seiner Suggestivkraft eingebüßt hat.

In Rochés Roman reißt die Frau – sie heißt Katharina nach Helens zweitem Vornamen – den untreuen Geliebten im Auto ihres Mannes mit in den Liebestod. Diese dramatische Zuspitzung entschärft die wahre Geschichte. In der Zeit der Trennung von Helen ist Rochés polygame Lebenskonstruktion zusammengebrochen: auch andere Frauen spielten sein Spiel nicht länger mit. Zum Liebestod hat es im wirklichen Leben nicht gereicht, nur zum denkbar schäbigsten Tod der Liebe. Der jahrelange Beziehungskrieg endete mit Morddrohungen und finanziellen Erpressungsversuchen Helens. Danach hat man sich nie wiedergesehen.

Die wahre Geschichte ist wesentlich brutaler als das Buch und der Film. Flügges Buch ist besonders stark dort, wo es den Übersetzungen des Lebens in die Kunst nachforscht, den Verzeichnungen und Retuschen, die notwendig waren, um das Scheitern im Leben nicht zu schmerzhaft sichtbar werden zu lassen. Franz Hessel hat in seinem Roman „Pariser Romanze“ den unglücklichen Ausgang seiner Liebe zu Helen ausgespart. In „Heimliches Berlin“ porträtiert er sich als heimlichen Nutznießer ihrer Affären. Beide, Hessel wie Roché, haben im Schreiben ihr Leben korrigiert. „Und wir verstehen: eine Romanze ist eine Geschichte, die Abgründe überspielt, die leichten Schrittes über unkalkulierbare Schrecken hinwegbalanciert.“

Im Film ist die kleine Tochter Katharinas nur eine Randfigur, die gegen Ende unerklärt aus der Geschichte verschwindet. Aus dem realen Liebesdrama sind zwei Söhne hervorgegangen, deren Leben nicht weniger romanhaft verlief als das der Eltern. Beide, und darin liegt nun doch ein wenig Hoffnung, haben die Spannung zwischen ihren deutschen, französischen und jüdischen Wurzeln auf ganz verschiedene Weise als Lebensantrieb benutzt.

Der jüngere Sohn, Stéphane Hessel, entschied sich früh für die französische Staatsbürgerschaft. Er ging in die Résistance, wurde verraten und überlebte zwei deutsche Konzentrationslager. Als Botschafter Frankreichs hat er sich nach dem Krieg vor allem für die Menschenrechte und die Dritte Welt eingesetzt.

Der ältere Sohn, Ulrich, wollte wie sein Vater in Deutschland bleiben. Gezwungenermaßen ging er 1935 zur Mutter nach Paris, überstand die Internierung, die Okkupation, die Flucht und die Abschiebung aus der Schweiz zurück ins besetzte Frankreich. Von Geburt an behindert, ausgeschlossen von der Liebe und der Kunst, weder Jude noch Christ, weder Franzose noch Deutscher. Er, der Nichtliterat, hat die bewegendsten Sätze zu Flügges Buch beigesteuert. In der Bilanz seines Lebens zwischen den Kulturen heißt es:

„Ich war die Ausnahme zu allen bestehenden Regeln, ich war ein unregelmäßiges Verb in der Grammatik des Lebens, aber die unregelmäßigen Verben merkt man sich leichter, dachte ich, ich war nichts Halbes und nichts Ganzes, ich war ein menschliches Kaleidoskop. Aber ist nicht die ganze Welt ein Kaleidoskop, das vom Zufall immer wieder neu geschüttelt wird und das anzuschauen man ein Leben lang lernen muß?“

Manfred Flügge: „Gesprungene Liebe. Die wahre Geschichte zu ,Jules und Jim‘“. Aufbau-Verlag, 320 Seiten, geb., mit zahlreichen Abbildungen, 44 DM