Die erträgliche Schwere des Seins

Im Archiv der Verbrechen und des Liebeskummers. Jean-Luc Benoziglio  ■ Von Elke Schmitter

Kary ist siebenundzwanzig und stirbt, als sie genau 1,70 mißt: ein frischer roter Strich an der Badezimmertür gibt Auskunft darüber, daß sie ihre Größe nach Kinderart noch einmal angezeichnet hat, bevor sie vom Balkon stürzte. Unten wird etwas anderes markiert: der Umriß ihres Körpers, der zerschlagen auf dem Pariser Asphalt liegt, damit die Polizei bei ihren Erwägungen, ob es sich um Mord (auszuschließen), einen Unfall (sehr unwahrscheinlich) oder Selbstmord (anzunehmen) handelt, sich ein Fallbild machen kann. Was sie nicht weiß, die Leser aber wissen: Kary hat sich längst einen Satz lang Gedanken gemacht über den kurzatmigen Positivismus, der in jenen Kreidezeichnungen zur Linie wird. „Weißt du, diese Kreidefiguren“, rief die Kunststudentin mit ihrer üblichen Hitzigkeit aus, „diese Figuren, die die Bullen um den Körper eines Typen malen, der einen Unfall hatte oder ermordet wurde, wie Kinder, die sich einen Spaß daraus machen, auf einem Blatt Papier die Umrisse ihrer geispreizten Finger nachzuzeichnen, diese Figuren sind vielleicht die einzigen authentischen Bilder der modernen Kunst, ich bin sicher, heutzutage wären Callot, Goya oder El Greco bei der Polizei, und die vom Fernsehen, weißt du, die stehn darauf, die schießen eine Nahaufnahme nach der andern für die 20-Uhr-Nachrichten, und wenn da, wo vorher der Kopf, das Herz oder die Eingeweide waren, noch ein paar Blutspuren oder gar Blutlachen sind, dann können sie sich nicht mehr halten, dann machen sie ihre Großaufnahmen, daß es einem vorkommt, als knallte das Objektiv der Kamera im nächsten Augenblick auf den rot schimmernden Asphalt, und all das, weil sie es nicht gepackt haben, rechtzeitig dazusein, bevor der Krankenwagen die Leiche einsammelt, also nehmen sie, was sie kriegen können, aber ich, ich behaupte, das sollte man in den Kunstzeitschriften bringen, nicht in den Nachrichten, denn, sag mal, gibt es was Schöneres, Düstereres, Stärkeres als diese Kreidegestalt auf einem schwarzen, regennassen Bürgersteig und dazu die Lichtreflexe der Schaufenster oder der Scheinwerfer, eine Gestalt, gekrümmt wie ein Hakenkreuz, die im Regen ausfranst, und das Blut fließt in den Gully, und was wäre eigentlich mit diesen Kreideumrissen, wenn sie nicht verwischt würden, wenn sie dort blieben, sich unauslöschlich überschnitten und im Laufe der Jahre auf all unseren Straßen stapelten, wäre das nicht eine ständige Erinnerung, was uns erwartet, eine Mahnung, daß der Bekloppte mit dem Gewehr vielleicht in ebendiesem Augenblick das Kreuzchen seines Zielfernrohrs mitten auf unsere ehrenwerte Passantenstirn richtet?“

Karys Körperzeichnung wird nicht unauslöschlich: „Einige Tage lang paßten die kleinen Mädchen aus dem Viertel auf, daß sie nicht auf die Kreidefigur traten, die die Polizisten um den Körper gezeichnet hatten.

Dann gewöhnten sie sich daran und achteten nicht mehr darauf.“

Nur einer schreibt mit, einer mit Namen Benoziglio: Er behält den Umriß dieser Leiche im Kopf und rettet ihn aufs Papier, nicht um etwas zu erklären (denn den Selbstmord seiner Heldin macht er uns nicht verständlich), sondern um ihn zu archivieren: einen vermutlich freiwilligen Tod unter unzähligen dieses Jahrhunderts, die weniger freiwillig waren und auf deren Nachweis und Gedächtnis wenig Wert gelegt wird:

„Als die Zahl der Verschwundenen bekannt wurde, für die Eichmann verantwortlich gemacht wurde, waren viele Franzosen, die sich nicht an die Reform ihres Geldes gewöhnen konnten, der Überzeugung, es handele sich um alte Tote. Damit sie sich einen Begriff machen konnten, mußte man ihnen erklären, daß dies 600 Millionen Centimes-Toten entsprach.“

Hier schrieb mehr als einer mit. Hier ist nicht der Mangel an Gedächtnis ein Problem, sondern dessen Überforderung, die unhinderbar eintretende Gleichgültigkeit angesichts dieser Todesberge, die um und um gewälzt werden, auf allen Kontinenten, die dafür sorgen, daß der wache Geist Form und Inhalt eines endlosen Friedhofs annehmen müßte. Und daß wir keinen Schritt mehr machen könnten, ohne auf die Kontur einer Leiche zu treten.

Benoziglios Roman ist ein monströses Unternehmen, vermutlich gleichgültig gegen sein Scheitern. Denn seine Technik, die Biographie einer jungen Westeuropäerin (deren Familie durch den Zweiten Weltkrieg auf der Ebene mittleren Unglücks gezeichnet ist) mit den Geburten und Toden unzähliger desselben Jahrhunderts zusammenzuschneiden (wie ein Buntglasfenster geschnitten ist, die Elemente durch Fugen säuberlich getrennt), kann nicht gelingen, und ein kluger Techniker wie Benoziglio weiß das. Sein Roman hat so die beängstigende, einschüchternde, aber nicht ergreifende Wirkung, wie sie Avantgardewerke haben, die sich um die Aufnahmefähigkeit ihrer RezipientInnen nicht kümmern, die am Unmöglichen scheitern wollen, die das Unfügbare, Mißratene, das ihnen anhaftet, dem Publikum als dessen Wahrnehmungsdefizite zeigen: Brinkmanns „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“, das US-Denkmal für die Opfer des Vietnam-Krieges, Lanzmanns „Shoah“-„Film“. Es hängt vom Material des Werkes, der Geschichte seines Autors, schließlich der kreativen Milde des Rezipienten ab, ob der solch programmgemäßem Scheitern nachgehen will oder das Vorgehen selbst als nunmehr schon abgehangenen, karrierefördernden Trick versteht: bei Benoziglios Material liegt der Verdacht immerhin nahe, der Autor wolle sich gegen ästhetische Einwände moralisch immunisieren (ein Gedicht gegen den Faschismus ist nie ein ganz schlechtes Gedicht...). Daß dieser Verdacht nicht zu halten ist, sondern daß die Funktion des Gedächtnisses das fortwährende Anliegen des Autors ist, zeigt ein zweiter Roman, „Bilder einer Ex“.

Während „Kary Karinaky“, dieses anspruchsvolle Politkunstwerk, im Hauptprogramm des Verlages erschien und die routinemäßige Beachtung erhielt, blieb dieses im Frühjahr erschienene Taschenbuch nahezu unbemerkt: ein Schade, das aus den Marktmechanismen resultiert und dem hoffentlich noch abzuhelfen ist. Denn die „Bilder einer Ex“ haben einen großen Rahmen verdient.

Wenn eine Liebe zu Ende geht, bleibt dem Enttäuschten die Erinnerung: keine bewußte und kreative, sondern eine zähe, selbsttätige Arbeit des Gefühlslebens, die sich lediglich gedanklich formuliert, aber ganz anderen Gesetzen folgt als denen der Analyse. Die Erinnerungen, die den Vergessenwollenden wie Stechmücken umkreisen, um nach ihren Bissen Beulen am Liebesleib zu hinterlassen, die jucken und aufgekratzt werden müssen, die am Schlafen hindern und aus dem Alltag eine Krankheit machen, sind das Material des Romans: aber es ist kein melancholisches Buch. Denn Benoziglio, der hier durch eine hinreißende Übersetzung und ein ganz aufmerksames Lektorat in allen Spielarten sprachlicher Anschaulichkeit präsentiert wird, zeigt seinen erinnernden Erzähler zwar von aller Hoffnung, nicht aber vom Humor verlassen. Und davon hat er mehr, als eine Tragödie verträgt.

Dieselbe nimmt ihren Ausgang naturgemäß in Griechenland, wo Held und Heldin ihren ersten gemeinsamen Urlaub machen und einen Strand suchen, wo sie ihre Glieder erst aneinander erhitzen und dann im Wasser kühlen können. Sie suchen mühsam und mit wachsender Angst vor Vergeblichkeit. „Tausendmal hatte ich mich in diesem Land von falschen Zusicherungen narren lassen, die gleichwohl aus tiefster Überzeugung und nach allerbestem Wissen und Gewissen gemacht worden waren. An einem Dienstag, nachdem ihm fünf kompetente Leute fünf unterschiedliche Abfahrtszeiten der Rireme jenes Tages genannt hatten, die tatsächlich aber erst am Donnerstag in See stach, ging Pyrrhon nach Hause und erfand den Skeptizismus.

Es war heiß. [...] Thalassa, Thalassa, so stapften wir von Mast zu Mast voran und bemühten uns, den Gedanken daran zu verdrängen, daß wir alles, was wir erklommen, einige Stunden später auf dem Rückweg wieder hinabsteigen mußten, und alles, was wir hinabstiegen, wieder erklimmen. Das Leben ist stets voller Höhen und Tiefen.

Unterwegs begegneten wir nur einem Menschen, der auf dem Rückweg hinauf zum Dorf war. Ein Typ, dessen schmutzigweißes T-Shirt endlich einmal weder irgendeine Aufschrift noch eine Zeichnung noch irgendein Emblem trug. Es sagte nichts aus, forderte nichts, stellte keine Frage, stammte von keiner Universität und versuchte nicht, witzig, originell oder provozierend zu sein. Das machte mir seinen Träger sympathisch. Soweit der Schweiß, der seine Augen trübte, ein Urteil erlaubte, meinte ich in seinem Blick eine gewisse Verlegenheit zu erkennen, als er, auf unserer Höhe angekommen, gegen einen Stein stieß, beinahe hinfiel, uns ein scheues Lächeln schenkte und seinen Weg fortsetzte, ohne daß wir ein Wort gewechselt hätten. Ich drehte mich um. ,Ich hab's im Kreuz‘, verkündete die Rückseite seines T-Shirts in großen schwarzen Lettern.“

Der Held hat sich selbst im Kreuz, sich und die noch immer Geliebte, und all die Details des Gedächtnisses, die durch die Erinnerung so fest miteinander verfugt werden, daß in eben jenen zugegipsten Zwischenräumen verpaßte Chancen, verfehlte Möglichkeiten im nachhinein Kontur bekommen – so eine der Auseinandersetzungen, die scheinbar anders hätte entschieden werden können: „Niemals werden sich die Überzeugungskraft, die die Worte dieses eine Mal hätten haben sollen, und die völlige Ohnmacht, die mit dem Gebaren semantischer Maulhelden zu verschleiern man ihnen stets vorgeworfen hat, so kraß gegenüberstehen wie in diesen Augenblicken. Jetzt, da man mit einem ganz neuen Köhlerglauben bestrebt ist, um der überzeugenden Wirkung willen so zu tun, als zweifle man nicht daran, daß mit dem Munde gemachte Geräusche jede noch so verzweifelte Situation zum Guten zu wenden vermögen, scheinen die Worte (denen eine so plötzliche Bekehrung vielleicht suspekt erscheint?) ein diebisches Vergnügen daran zu empfinden, sich auch des letzten Rests von Sinngehalt zu entledigen und zu entäußern, den man ihnen zu Zeiten unseres Unglaubens noch zugebilligt hatte. In der Tat neigte man zu jener Zeit bereits so stark dazu, wenn man zum Beispiel im Tabakladen um die Ecke ein Päckchen Gitanes verlangte, ein gewisses Erstaunen zu empfinden, wenn das funktionierte (das heißt, wenn die Verkäuferin uns augenblicklich und ohne den Anflug eines Zögerns das Gewünschte reichte), daß dieses leichte Erstaunen sich sogleich in völlige Verblüffung verwandelte, wenn man feststellte, daß Worte oder Reden, die an einen Standesbeamten, ein Gericht, einen Generalstab, eine politische Versammlung oder einen Verwaltungsrat gerichtet wurden, imstande waren (ohne daß das irgendwen zu erstaunen schien), eine Eheschließung, den Freispruch des Angeklagten, den Waffenstillstand, die Regierungsbildung oder die Erschließung lukrativer Märkte zur Folge zu haben, während andere Worte, andere Reden, zur Scheidung, zur Guillotine, zum Krieg, zum Sturz der Regierung oder zum betrügerischen Bankrott geführt hätten. Indem wir den Worten diese Macht absprachen, wußten wir sehr wohl, daß wir etwas in Frage stellten, was zusammen mit dem freien Willen (und dem Drang, ihn zu brechen, wenn er nicht dem unseren entspricht) und dem den anderen Fingern gegenüberstellbaren Daumen (wenn er, nach unten gerichtet, das Todesurteil fällt) immerhin eines der wesentlichen Merkmale des Menschen ausmacht. Man wird uns allerdings nicht erzählen können, es sei nur Zufall gewesen, daß so viele bedeutende und endgültige Entscheidungen, die das Schicksal einzelner oder ganzer Völker besiegelten, getroffen wurden, ohne ein einziges Wort verlauten zu lassen, etwa die, in den polnischen Grenzgebieten höchst seltsame Barackenlager zu errichten.“

Es ist, auch hier, kein koketter Kunstgriff, der Benoziglio an die Ränder des Möglichen (der Erinnerungskapazität, der sprachlichen Ermächtigung) führt: es ist die Regsamkeit eines Geistes, der ohne die permanente Reflexion seiner unwillkürlichen Tätigkeit ganz unvollständig bliebe. Die Verweigerung, sich zu beschränken – beispielsweise auf das Private der Erinnerung, das immer wieder roh vom Politischen durchstoßen wird –, gibt den Texten dieses französischen Autors eine Lebendigkeit, die ihre archivierende Funktion nicht stört, sondern auszeichnet. Wenn Literatur, emphatisch gesprochen, das Gedächtnis der Menschheit ist, schreibt Benoziglio daran mit.

Jean-Luc Benoziglio: „Der Tag, an dem Kary Karinaky auf die Welt kam“. Aus dem Französischen von Michael Mosblech. Rowohlt, 315 Seiten, geb., 42 DM

„Bilder einer Ex“. Phantastisch übersetzt von Claus Sprick. Rowohlt TB, 319 Seiten, 14,90 DM