Zitatenjägers Beute

Schön unausgewogen. Henryk M. Broders Betrachtungen zur deutschen Einheit und Einheitsseele  ■ Von Marko Martin

„Sie sollten sich durch gelegentliche ungünstige Erfahrungen nicht entmutigen lassen, sondern weiterhin Ihre Stimme erheben. Die Zeit wird hoffentlich für die historische Wahrheit arbeiten!“ Endet so ein Leserbrief an Henryk M. Broder? Das wäre ein Novum. Statt dessen handelt es sich um die alte Geschichte des gegenseitigen Absolutionserteilens und Händeschüttelns. Broder hat den Brief nur öffentlich gemacht. Sein Verfasser heißt Dr. Manfred Stolpe, Egon Krenz ist der Empfänger, dessen Epistel an Stolpe wiederum von Dr. Peter-Michael Diestel überbracht wurde: Kettenbriefe im Dienste des „Inneren Friedens“, sprich des eingeforderten Seelenfriedens für Täter.

Henryk Broders neues Buch „Erbarmen mit den Deutschen“ ist voller solcher Fallbeispiele. Was wird's helfen? Da dieses Buch keineswegs ausgewogen ist im Sinne der herrschenden Balance zwischen Mittun und Wegsehen, zwischen Verschweigen und Schönreden, wird man es wohl einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Es wird weder Aufsehen erregen noch Widerspruch erzeugen, schon gar keine Debatten auslösen. Weder im Osten, wo man westdeutsche Intellektuelle nur dann wahrnimmt, wenn sie sich erfolgreich als Therapeuten für die malträtierte Mitläuferseele des Nischenvolkes anbiedern konnten, noch im Westen, wo man schließlich Jahrzehnte Zeit hatte, die Instrumente zur Realitätsverweigerung zu verfeinern und zu schärfen, rechte Haken, linke Klingen und all das Stumpfzeug, mit dem man eine moralisch indifferente Volksseele bei Laune hält.

Ein weiteres Handicap: Broder ist ein Witzbold und das Buch trotz allem zum Schreien komisch. Wer den Kampf um das Deutungsmonopol in Sachen deutscher Vergangenheit auf moralischem Felde führen will, wird mit Broder wohl kaum froh werden. Bestes Beispiel: Vera Wollenberger, Frau, engagierte Bürgerrechtlerin, Opfer des Stasi-IM „Donald“ in Gestalt des eigenen Ehemanns Knud. Einen Bonus bekommt auch sie nicht, den wird sie sich wohl weiterhin in der arabischen Welt holen, über deren Wertschätzung durch die deutsche Friedensbewegung Vera Wollenberger zu Zeiten des Golfkrieges so bewegt Zeugnis gab. Und noch anderes entschlüpfte ihren Lippen: „Ich weiß nichts von Donald, aber Knud war ein hinreißender Vater, der seine Kinder über alles liebte.“ Kommentar Broder: „Das klingt doch bekannt. Sprach es nicht so ähnlich aus den Frauen vieler NS-Funktionäre, die [...] die familiären Tugenden der Unter- und Oberscharführer anpriesen? [...] Gewiß, gewiß, der Vergleich hinkt ein wenig, was seine quantitative Dimension angeht, aber was die Qualität der Ausreden fürs Wegsehen und Weghören angeht, trifft er zu. Die spezielle deutsche Kontinuität tritt nicht in den glattrasierten Schädeln der Skins zutage [...], sondern dort, wo das unheilbar gesunde Gewissen sich ungeniert und ungefiltert artikuliert.“

„Besoffen zu sein vom Klang der eigenen Phrasen“, bescheinigt Henryk Broder diesen chronisch guten Menschen; infamerweise kann er das auch noch mit Zitaten belegen. Ob die keifende Regine Hildebrandt, der mit dem diesjährigen Handelspreis des deutschen Buchfriedens ausgezeichnete Mainstream-Prediger Friedrich Schorlemmer („Mitempfindungskultur im Durchsetzungskult unserer Effizienzgesellschaft“), ob Roy Black und Rudolf Bahro, die Herren Gaus und Gauweiler, Hermann Görings Emmy und Alice Schwarzers Emma – keine Person und kein Sinnspruch gingen verloren. Hübsche Geschichten zum Heulen: zum Beispiel die Vermutung, daß die „jüdische Religionszugehörigkeit auf der Chefetage“ der New York Times der Grund gewesen sei, weshalb man dort die Stasi-Stories Manfred Stolpes anläßlich seines Besuches zur Sprache brachte. Broder fand dieses erhellende Detail in einer (Ost-)Berliner Tageszeitung, die der Verfasser dieser Rezension nicht namentlich nennen möchte, um sich nicht ein ihm von der dortigen „Chefetage“ bereits angedrohtes Publikationsverbot einzuhandeln. Broder liefert keine der derzeit ins Kraut schießenden verdrießlichen nationalen Selbstfindungsschinken mit ihren öden Suchbewegungen nach Identität, Sinngebung und kosmischem Verantwortungsbewußtsein. Und da, wo er versucht, Theorien à la „Die friedliche Revolution war das Opus magnum der Stasi“ aufzustellen, geht das wohltuend schief. Onkel Henryk erklärt uns die Welt – darauf kann man verzichten, denn Broder hat Besseres im Ärmel.

Mehr als Zitatenjäger und hauptberuflicher Provokateur kann man bei ihm nachlesen, wie man sehr wohl dem Prinzip der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein kann, ohne in schwerblütiges Dozieren abzurutschen. Nichtegalitärer Zynismus: Vielleicht hätte eine akademische Stilanalyse von Broders Texten diesen Befund ausgespuckt.

„Auf der Strecke vom Untertan zum Oberlehrer hat sich das deutsche Gemüt einmal im Kreise gedreht. Und wie bei jeder Rundfahrt liegen Start und Ziel dicht beieinander.“ Wer daran zweifelt, versuche einmal, in der Öffentlichkeit dieses Buch zu lesen: „,Erbarmen mit den Deutschen‘ – guck mal, der liest'n rechtes Buch.“ Oder: „Guck mal, der liest Broder.“ Man sollte in diesem Land getrost mit beiden Möglichkeiten rechnen. Wer dermaßen deutlich über das basistotalitäre Beteiligungsmodell DDR und seine westdeutschen Fürsprecher schreibt, wer unter der Überschrift „Hängt die Kleinen!“ die Mitläufer nicht für die Verführten, sondern die Grundlage vergangener und künftiger Systeme hält und über die „praktische Arbeitsteilung zwischen der deutschen Rüstungsindustrie und der deutschen Friedensbewegung“ im Golfkrieg berichtet, muß wissen, worauf er sich einläßt. „Nie habe ich begreifen können, wie Menschen in ihrem Haß gegen Juden bis zu deren physischen Vernichtung gehen konnten. Nach der Lektüre von Broders Spiegel-Beitrag beginne ich, dies erst mal zu verstehen“, heißt es in einem der wohl noch am nettesten formulierten Leserbriefe.

Etwas verdruckster werden sich wohl die Rezensionen zu diesem Buch anhören. Man wünscht ihm viele Übersetzungen in andere Sprachen. Hierzulande wird man wohl nicht mal mehr mit Geschrei reagieren, die Formulierung über die Neuinszenierung des „Falles Globke ... in Potsdam“ nicht ausgenommen. „Everybody knows“, sang Leonard Cohen mit trauriger Stimme; Broders witzige Aggressivität kann für die Fortdauer des Immergleichen ein wenig entschädigen.

Henryk M. Broder: „Erbarmen mit den Deutschen“. Hoffmann und Campe Verlag, 240 Seiten, geb., 28 DM