Papst-Enzyklika im Glanz der Wahrheit

■ Die Kirche – Herrscherin über Moral

Rom (taz) – Angekündigt war sie schon seit mehr als einem Jahr, erste Entwürfe kursierten, wurden wieder zurückgezogen, überarbeitet, ein neuer „definitiver“ Text wurde der Indiskretion preisgegeben, dann noch einmal alles revidiert: Nun ist das Ei gelegt, hat seinen Namen „Veritatis spendlor“, Glanz der Wahrheit, und schon alleine dieser Titel (traditionell die Anfangsworte des Schreibens) verheißt nach Ansicht vieler Kirchenskeptiker nichts Gutes: Wenn Papst Johannes Paul II. von Wahrheit anfängt, kommt meist etwas heraus, das außer Wojtyla nur wenige als solche erkennen.

Die Enzyklika, die zehnte seit Antritt des Pontifikats durch diesen Papst, widmet sich erstmals in der Kirchengeschichte ausschließlich der Ehtik. Frühere „Lehrschreiben“ Wojtylas und seiner Vorgänger hatten sich zwar implizit auch mit Moral befaßt; im Studium der Priester ist der Kurs über „Moraltheologie“ auch obligatorisch. Doch hier soll nun erstmals eine „vollständige Auslegung der christlichen Moral“ (so der Papst) verfaßt sein, die alle menschlichen Handlungen wertet und einordnet. 170 Seiten lang wird das ausgebreitet – doch die Quintessenz läßt sich in einem knappen Satz zusammenfassen: Wie hoch auch immer die Gewissensentscheidung des Menschen angesetzt wird – das von der Kirche verkündete Gesetz steht darüber. Und dieses sieht beispielsweise auch künftig das Verbot der Empfängnisverhütung vor.

Daß das Opus so umfangreich ist, hängt damit zusammen, daß der Papst von seinen Glaubensauslegern eine sozusagen flächendeckende Arbeit verlangte – nichts soll mehr der Interpretation anheimgegeben sein, alles festgelegt werden. Die vielmalige Überarbeitung hängt damit zusammen, daß ganz bewußt einzelne Abschnitte in die Öffentlichkeit lanciert und dort kritisiert wurden – um danach wasserdicht gemacht zu werden. Das dritte Jahrtausend christlicher Zeitrechnung, moralisch, in Beton gegossen.

Die Enzyklika wurde zum 15. Jahrestag der Wahl von Karol Wojtyla zum Papst verkündet – kein Zufall, sondern Verheißung: Es wird schwierig werden für jeden Nachfolger, von solch einer festgeklopften, in alle Einzelheiten gehenden Vorschriftensammlung wieder herunterzukommen.

Noch schwieriger wird es für Papst-Kritiker. Sie waren es nämlich, die den Papst zu dieser Enzyklika zwangen. Seine in früheren, überwiegend rückwärtsgewandten Send- und Lehrschreiben ausgedrückten Forderungen an den Christen ließen implizit eine Ethik vermuten, die explizit leicht zu zerpflücken wäre. So hofften alle, der Heilige Vater werde sich kräftig blamieren, wenn er mal alle seine Moralsätze ausformulieren muß.

Doch wieder einmal hat der Papst seine Kritiker genarrt. Seit einigen Jahren nämlich reklamiert er ein fast vergessenes Recht: den 1870 beim 1. Vatikanischen Konzil festgelegten sogenannten „Jurisdiktionsprimat“, die absolute Entscheidungsgewalt in Glaubensfragen, die weit über die sogenannte „Unfehlbarkeitsdoktrin“ hinausgeht, die damals ebenfalls festgelegt wurde. Seither haben Kritiker faktisch nur eine Wahl – Verstummen selbst gegenüber offensichtlichen Widersprüchen oder aus der Kirche austreten. „Wer diesen Primat nicht anerkennt“, sagt der Beschluß des 1. Vaticanums, „der sei gebannt.“ Die Hoffnung, die Moralenzyklika als Hebel zur Relativierung früherer Papst-Vorschriften zu nutzen, ist somit gering.

Der Papst hat an diese Lage ausdrücklich erinnert. „Es ist Aufgabe des Heiligen Vaters“, erklärte er am Sonntag, „den Gläubigen ohne Wenn und Aber zu sagen, welche Verhaltensweisen Gott will.“ Glanz der Wahrheit, fürwahr. Werner Raith