Endlose Nuancen von Schwarz

■ Zwischen Strukturvergleich und Tröstung. Jonathan Rauchs Essay, ein amerikanischer Versöhnungsversuch mit dem „Ausnahmeland“ Japan

Er hält Japan für einen Elefanten, den man ertasten muß. Im Epilog seines Buchs „Das Ausnahmeland“ erzählt Jonathan Rauch die Geschichte des Geschäftsmanns, der einen Platz überquert, ein Zierbäumchen ansteuert und aus seiner Hand eine Zikade entläßt, „fett und häßlich, eine derer, die viele Bäume Tokios wie Laubsägen klingen lassen“. Nun glaubt Rauch den Elefanten zu berühren, der Japan ist. Und der Leser muß nun endlich erkennen: Im Vergleich zu ihren Grashüpfern sind Japaner richtige Menschen, wie wir, oder vielleicht noch edler.

In zweihundert Episoden und Reflexiönchen von wenigen Zeilen bis zu zwei Seiten Länge lernen wir mit dem Stipendiaten des American Enterprise Institute im Jahre 1990 Japan kennen. Der Junge aus der Wüste Arizonas, an der amerikanischen Ostküste „kosmopolitisiert“ (Rauch über Rauch), besucht ein Land, von dem er behauptet, daß seine Landsleute sich vor ihm fürchten. Dies ist wohl der eine Grund, warum das Buch streckenweise einem Traktat gleicht. Der andere: Rauch möchte den Japanern höflich, aber bestimmt beibringen, daß sie ihr Land verändern müssen, damit die Amerikaner nicht weiterhin böse sein müssen.

„Die Leute sind nicht geklont“, berichtet er. „Das springt sogar dem ins Auge, der im Betrachten von Asiaten ungeübt ist und noch nicht gemerkt hat, daß ihr Haar endlose Nuancen des Schwarzen moduliert: pechschwarz, braunschwarz, dunkelbraun, sogar rotbraun.“ Tokio wirkt auf den jungen Mann an seinem ersten Abend „sauber, von Zigarettenstummeln abgesehen. Schön ist das nicht. Schaufenster und Schilder zeugen von höchstem Feingefühl: reiche, sicher abgestimmte, klare Farben. In den Straßen drängen sich schwarze Limousinen, als Statussymbole neu und makellos. [...] Auf der Straße spürt man einen Sinn für Balance und Selbstvertrauen, besonders bei jüngeren Männern und Frauen, die sich sehr stilvoll und gewählt kleiden. Auch ohne jedes Vorwissen würde man hier instinktiv eine Gesellschaft in der Aufbauphase vermuten.“

Allzu eilig verabschiedet sich der Autor von den Äußerlichkeiten des Lebens, um in bewährter protestantischer Manier rasch zum Kern der Angelegenheit vorzustoßen, dem Aufbau der Gesellschaft, der Position des Individuums, dem Geheimnis des wirtschaftlichen Erfolgs, dessen Krise der Wirtschaftsjournalist genausowenig voraussieht wie das Ende der Herrschaft der Liberaldemokratischen Partei. Wie funktioniert Japan, will er wissen, und kann teils mit solidem Wissen und nachvollziehbaren Beobachtungen aufwarten. Er zeigt, daß das Bildungssystem streng ist – aber daß die Entbehrung Teil einer Strategie des Glücks ist. Es wird deutlich, welch affirmatives Verhältnis die Japaner zur Publikation haben – so gut wie alles wird gedruckt, so gut wie nichts verrissen. Rauch legt dar, wie Japaner ihren Nonkonformismus für einzigartig halten und somit eine Kritik ihrer Gesellschaft auf einem passiven Level bereits vorbereitet haben.

Dennoch ist seine Bereitschaft gering, die innere Dynamik eines fremden Systems anzuerkennen. Zwar ist der Reisende beeindruckt von der flächendeckenden Versorgung des Landes durch winzige Läden, die jeweils alles haben (zum Beispiel Reis, Einkaufstaschen, einen Fernseher); allerdings empfiehlt er preisbrecherische Supermärkte, damit die Japaner sich frei entscheiden können zwischen hohen Preisen und niedrigen. Die strukturellen Konsequenzen plausibel zu erörtern, ist er nicht bereit. Da siegt das Bekenntnis.

Rauch präsentiert nicht genug Material, damit (im Original) „The Outnation“ als Bericht standhält; das liegt vielleicht daran, daß „man“ beim Blick in eine japanische Zeitung „nicht einmal weiß, wo die Wörter anfangen und enden“. Andererseits wird auch sein Zugang zu Ministerien und Betrieben nicht transparent; man müßte wissen, wer Rauch in den Augen der Japaner ist (funktionell gesehen), um zu verstehen, was er in Erfahrung bringt. Vielleicht verschenkt Rauch, der weiß, wie ein „amerikanischer Homosexueller [...] in dem Gefühl aufwächst, als einziger in der Welt anders zu sein, gegen alle anderen“, auch die Chance, Wichtiges aus der Subkultur mitzuteilen.

Dennoch ist das Buch, das in der deutschen Fassung den unglücklichen Untertitel „Japan zwischen Seele und Markt“ mitbekommen hat, keineswegs überflüssig. Nicht Rauchs Tröstungen, daß Japan so unvergleichlich nicht sei, helfen weiter, sondern seine strukturellen Beschreibungen. Manches kennt man aus Schweden, manches aus Holland, vieles aus Frankreich. Auch wenn Rauch, der außerhalb Amerikas und Japans nirgendwo länger gewesen ist, das nicht sieht: es teilt sich mit. Ulf Erdmann Ziegler

Jonathan Rauch: „Das Ausnahmeland. Japan zwischen Seele und Markt“, mit Fotos von Joel Sackett. Klett-Cotta Verlag, 215 Seiten, geb., 34 DM