Aus dem Bunker

Trümmer–Literatur. Mit dem Ironiker David Lodge zurück ins graue Deutschland der Nachkriegszeit  ■ Von Rüdiger Zill

Die beiden letzten Romane von David Lodge, „Saubere Arbeit“ und „Neueste Paradies-Nachrichten“, sind auch in Deutschland mit viel Beifall bedacht worden. Nun wagt sich der Haffmans-Verlag auch an die Übersetzung älterer Bücher des scharfsichtigen Beobachters aus Birmingham. „Out of the Shelter“, im Original 1970, jetzt bei uns unter dem Titel „Ins Freie“ erschienen, schrieb Lodge, bevor er die Arbeit an seinem Bestseller „Ortswechsel“ begann. Zwischen beiden Büchern liegen aber in mehr als einer Hinsicht Welten. In „Ortswechsel“ und seiner Fortsetzung „Schnitzeljagd“ wird die Welt des etablierten Akademiker-Jet- sets so treffend aufs Korn genommen, daß sich ein Kritiker zu dem Satz hinreißen ließ, ihre Komik könne „Tote wieder aufwecken“. Der erste der beiden Romane führt den englischen Literaturprofessor Philip Swallow ins amerikanische College-Leben zur Zeit der Studentenbewegung. Er begegnet der fremden Kultur zunächst mit Vorsicht, mit Mißtrauen, dann aber verändert sie sein Leben: Die Reise wird zu einem Aufbruch, zu einer Befreiung.

„Ins Freie“ erzählt ebenfalls von einem Aufbruch, aber von einem ganz anderer Art und in einem ernsteren Ton. Die Bücher von David Lodge tragen zwar immer auch autobiographische Züge, dieses aber in besonderem Maße. „Ins Freie“ ist die literarische Verarbeitung seiner Kindheit und Jugend, vor allem aber die Geschichte eines Sommerurlaubs im Land des ehemaligen Feindes: in Heidelberg.

Der erste Teil der Geschichte führt uns nach London. Es ist Krieg, die Stadt wird von den Deutschen bombardiert. Der fünfjährige Timothy Young verbringt den Großteil seiner Nächte im Schutzraum. Fraglos beherrscht Lodge sein Handwerk: Auch stilistisch werden diese Jahre aus der Sicht des kleinen Jungen vorgeführt. Krieg wird zum Abenteuer; Krieg bedeutet nachts aufstehen, bedeutet eine Mickey-Mouse-Gasmaske, Stahlhelm und Trillerpfeife für den Vater, schwarzes Papier vor den Fenstern, bedeutet den blauen Bunkeranzug, warm und beschützend: „Winston Churchill hatte genauso einen.“ Erst nach und nach bricht eine andere Realität ein. Während eines Angriffs kommen das Nachbarskind und dessen Mutter ums Leben.

Die Welt des kleinen Tim ist von einer privaten Mythologie bevölkert, das Idol darin ist „Onkel Jack“, der Heckschütze eines Wellington-Bombers. Der Feind erscheint als Schemen: Figuren der Propaganda, wie man sie aus Filmen und Heftchenromanen kennt: „Hitler war der Oberboß von den Deutschen. Er hatte den Krieg angefangen. Er war ein schlimmer Mann mit einem schwarzen Schnurrbart. Die Deutschen heißen auch Nazis, das hörte sich an wie nasties, die Bösen, und war deshalb ein guter Name.“

Die ersten Nachkriegsjahre sind von Entbehrungen gekennzeichnet, dem feuchten Mief eines armen Süd-Londoner Vororts. Die Wirtschaft kommt nicht recht in Gang; noch 1951 sind Lebensmittel rationiert; Franzosen, Belgiern, selbst den unterlegenen Deutschen geht es längst besser als dem siegreichen Großbritannien. Einen Hauch von Luxus, Zigaretten, Strümpfe, eine Schweizer Uhr, bringt nur Kath mit, Timothys Schwester, die Sekretärin bei den amerikanischen Besatzungstruppen in Heidelberg geworden ist.

Und diese Schwester verhilft dem Sechzehnjährigen zu seinem Aufbruch. Sie lädt ihn in den Sommerferien ein, zu ihr nach Heidelberg zu kommen. „Ins Freie“ ist ein Bildungsroman. Er zeigt uns den intellektuellen und – natürlich – sexuellen Aufbruch eines brav katholischen Jugendlichen aus der unteren Mittelschicht, der kaum mehr kennt als die endlosen Reihenhauszeilen seines Londoner Vororts. Es ist vor allem die Geschichte der ersten Triebe und anderer Sorgen. Es ist aber auch die Geschichte privater und kollektiver Mythenbildung.

Etwa sechzig Jahre vor Lodge hat ein anderer schüchterner Engländer aus bedrückenden Verhältnissen Heidelberg besucht, auch er gerade sechzehn, auch für ihn der erste Ausbruch aus seiner beschränkten Welt: Philip Carey, das literarische younger ego William Somerset Maughams in dessen autobiographischem Roman „Der Menschen Hörigkeit“. Der Mikrokosmos der Pension von „Frau Professor Erlin“ ist dort Heidelberg, und Heidelberg ist Deutschland: eine Mischung aus Gemütlichkeit und Skurrilem mit einer Prise Unheimlichkeit – ein bißchen so wie für uns Transsylvanien. 1890 aber überwiegt noch entschieden das Gemütliche.

In „Ins Freie“ bemerkt ein GI angesichts der zerbombten deutschen Städte, Heidelberg verdanke seine Rettung dem Prinzen Karl- Franz, der Hauptfigur der Operette „The Student Prince“, entstanden nach dem deutschen Stück „Alt-Heidelberg“: „Viel Herz und Schmerz, unheimlich kitschig, aber enorm beliebt in den Staaten. Viele Amerikaner haben nur wegen dieser Operette ihre Kinder zum Studium nach Heidelberg geschickt. Wenn man Bombenangriffe auf Heidelberg befohlen hätte, heißt es, hätte die Air Force gemeutert.“

Das Deutschland von Philip Carey und das von Timothy Young trennen aber nicht nur sechzig Jahre, nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch Bergen-Belsen und Auschwitz. Das verändert den Blick: In einem völlig fremden Passanten erscheint Timothy das Urbild eines KZ-Kommandanten: kahlköpfig, narbig, mit kleinen, blutunterlaufenen Augen. Die Mythologie seiner Jugend wird aber durch die deutsche Realität wenig verändert, da er der unmittelbaren Erfahrung meist ausweicht. Die Deutschen, die er trifft, bleiben daher eher blaß.

Da ist ein einarmiger Pförtner, der froh gewesen war, in englische Gefangenschaft zu geraten. Da ist dessen Vater, ein Mitläufer, der sich um seine Rente sorgt. Als Timothy bei dieser deutschen Familie zum Kaffeetrinken eingeladen ist, nutzt er die Gelegenheit, um im Radio, dem Stolz des Hauses, die Übertragung eines Cricket- Matches anzuhören.

Die viel größere Erschütterung erfährt sein Weltbild durch die Amerikaner. Die Freunde seiner Schwester führen ihm ein Leben in verführerischem Luxus, für den guten Katholiken aber auch ein Leben in Verantwortungslosigkeit vor. Auch sein Blick auf die Deutschen wird durch sie geprägt: durch den moralischen Don, einem Ex-GI aus jüdischer Familie, der Auschwitz besuchen will, um sich von einem Alptraum zu befreien, einem Alptraum, in dem er sich selbst als KZ-Häftling sieht, und durch Vince, der für die Entnazifizierung der Region zuständig ist, seinen aufwendigen Lebenswandel aber schon mal damit zu finanzieren versucht, daß er Informationen an die Sowjetunion verkauft. Am Ende erscheint Vince dann als schwuler Kinderschänder, der sich zur Belustigung seiner Partygäste als Nazioffizier kostümiert.

Da schlägt dann die Erforschung der Mythenbildung, die Lodge so behutsam und eindrucksvoll unternommen hat, auf ihn selbst zurück. Die Verlockungen des American way of life erscheinen dämonisiert; wer ihnen verfällt – wie die Schwester Kath –, bleibt weinend und allein am Swimming- pool zurück. Den Helden bewahrt davor der Hort der katholischen Kleinfamilie.

Kurze Zeit, nachdem „Ins Freie“ entstand, fuhr Lodge als Gastprofessor nach Kalifornien, ein „Ortswechsel“, der seine eigene private Mythologie nicht grundsätzlich verändert, aber doch um einiges modernisiert hat.

David Lodge: „Ins Freie“. Aus dem Englischen von Renate Orth- Guttmann. Haffmans-Verlag, 336 Seiten, geb., 38 DM