Ein lyrischer Stadtvermesser

■ Muslimische Moderne. Abdulah Sidrans Gedichte aus dem Sarajevo der Vorkriegszeit, zu lesen in der Nachkriegszeit

Titel: „Alptraum“. Geschrieben: vorher, vor dem Alptraum der Wirklichkeit. Wie auch alle anderen Gedichte des Bandes „Insel bin ich, im Herzen der Welt“: Gedichte aus den Jahren 1963-1987. Dokumente aus der Zeit vor der Zerstörungsorgie. Es war einmal: „Ganz in der Nähe duftet eine Linde.“ Es war einmal: Spaziergänge an der Miljačka mit dem Dichterfreund Stevan Tontić; der mußte fliehen. Weggezogen, geflüchtet sind auch die sephardischen Juden, denen er Verse gewidmet hat. Es war einmal: Architektur und Vegetation, die er besingt; Minarette und Weichselbäume sind gefällt. Tote in jeder Familie. Man muß erst über Stämme und Steine springen, über die ausgedehnten Wüsten der Friedhöfe wandern, um in die Vorkriegszeit zu gelangen,in jenes Sarajevo, das Sidrans Gedichte bevölkert. Abdulah Sidran ist ein poetischer Stadtvermesser von unbestechlicher Beobachtungsgabe, einer, der alle Winkel der Stadt auslotet und ein Auge für ihre unsichtbaren Kräftefelder hat. Dichter einer Stadt, in der sich alle Gesichter der Welt spiegeln, und doch geht seine Kunst weit über die des Stadtdichters hinaus. Mühelos spannt er den Bogen „vom Lokalkolorit zur universalen Note“ (Midhat Begić, bosnischer Kritiker), Traumtänzer, Kosmopolit einer muslimischen Moderne.

Seine Herkunft kann und will Sidran gar nicht verleugnen. Die Mehrzahl seiner Gedichte ist im bosnischen Raum beheimatet. Motive aus der Landesgeschichte, alltägliche Begebenheiten in Sarajevo sind neben Sinnfragen und Gedanken über die Dichtkunst ständig wiederkehrende Themen seiner Lyrik. Sidran nützt die Traditionen der oralen Literatur des dinarischen Raumes, übernimmt aus dem Volkslied das durch zahlreiche Verben gestützte narrative Parlando, verstärkt es noch durch refrainhafte Wiederholungen. Ein typisch orientalisches Formelement sind die häufig eingeflochtenen Beschwörungen: „Jeglich Ding wird gut“, „Mir kann nichts mehr geschehen“, „Alles ist eins“. In der islamischen Mystik sind solche affirmativen Sätze oft ein Mittel, die Einheit der Gegensätze zu betonen. Sidran setzt die Affirmation meist paradox ein: Zwar ist alles eins, doch dieses Einssein ist „Stille, und ringsum nichts“. – Auch das dialogische Prinzip, in allen mündlichen Erzählkulturen gepflegt, hat Platz in seiner Poetik; Ansprache und Wechselrede variiert er mit einem kollektiven Subjekt, einem „Wir“ des gemeinsamen Handelns; im Kontrast dazu steht ein aus allen Zusammenhängen herausgerissenes „Ich“, dem an die Stelle Gottes der Abgrund gerückt ist, ein nihilistisches und doch nach Harmonie drängendes „Ich“, in dem Welten und Weltanschauungen aufeinanderprallen.

Sidran schlägt Brücken zwischen Tradition und Moderne, Orient und Okzident. Seine historischen Gedichte zeigen ein tiefes Verständnis der regionalen Geschichte; auf der Gegenspur übermittelt er Botschaften an die Gegenwart. Er berichtet über den Freundschaftsvertrag des bosnischen Ban Kulin mit der Stadtrepublik Ragusa nicht als neutraler Chronist, sondern begeistert sich an dieser Rede aus dem zwölften Jahrhundert: „... Ich, bosnischer Ban Kulin, / gelobe dir, Fürst Krvaš, und allen Dubrovniker Bürgern, euch ein wahrer Freund zu sein, von nun an und für immer.“ Dabei trauert er nicht untergegangenen Werten nach. Auch wenn er für die Jetztzeit konstatiert: „Ringsum pfeift die Sinnlosigkeit“, so wirft er die Frage auf, weshalb wir zu solchen Botschaften nicht mehr in der Lage sind, obwohl wir uns mit den Fortschritten des aufgeklärten Geistes brüsten.

Ein anderes Gedicht greift eine Zeit auf, in der sich, so die Historiker, nichts Nennenswertes ereignet hat, und untersucht einen Mordfall aus dem Jahre 1641. Nach damaliger Rechtsauffassung war, wenn sich der Mörder nicht feststellen ließ, die gesamte Mahala (Stadtviertel) für den Mord verantwortlich – das betraf über zwanzig orthodoxe Christen. „Aber da die Familie des Getöteten ihrerseits / keinen Blutzoll verlangte, legte sich die Sache wieder.“ Nichts Besonderes also, und doch sieht Sidran ein Bündel Licht aus diesen Zeiten heraufscheinen.

In jüngster Zeit mehren sich die Bestrebungen, die bosnische Geschichte ins Korsett einer Nationalgeschichte zu zwängen. Um das Nationale aufzupolieren, bedient man sich dabei gewisser Konstruktionen: Das Mittelalter wird zur finsteren, blutigen Epoche wegen seiner nationalen Indifferenz, die Zeit der Türkenherrschaft wird lediglich vom Aspekt der imperialen Unterdrückung betrachtet. Der Mythenbildung stellt Sidran seine Geschichtsbilder entgegen und zeigt auf, welch hohen Grad an Sozietät die pluralistische Gesellschaft in Bosnien bereits in früheren Epochen erreicht hat.

Wer Sarajevo einmal besucht hat, vorher, wird als städtischen Alltag das Treiben in der Čaršija verstehen, jenem orientalischen Zentrum mit seinem verknäuelten Gassengeflecht, seinen Buden, Läden und Werkstätten. Sidran hingegen hat wenig Interesse am Folkloristischen. Wenn er in seinen Gedichten den Alltag der Stadt durchstreift, so entdeckt er daran das Unscheinbare, das Gewöhnliche, Gemeine, sich ständig und gedankenlos Wiederholende, das aber immer den Keim des eigenen Gegenteils in sich trägt. Er weiß, wie schnell aus dem Zusammenleben Zwietracht entsteht („... wir bildeten uns ein:/ sie setzen uns Messer an die Kehlen. / Und schon planten wir Morde.“) Er weiß, daß in dieser Stadt der Mensch oft „mit eisigem Herzen erwacht“. An Wunder ist er gewöhnt, ebenso an die Tatsache, daß hier Liebe und Unglück das gleiche Gesicht haben, daß, ob Pest oder Liebe, „alle Krankheiten ansteckend sind“. Er weiß, daß im Porenbau des Lebens das Nichts sich breitmacht, kein Gott, welcher Religion auch immer, eröffnet dem Fragenden die Wahrheit. Er weiß, daß der Lärm der Menschen nur die Stille des Entsetzens übertönen soll, und daß Verse nur Placebos sind. Sidran ist stets vertieft in Selbstgespräche, als ob Worte die Unbehaustheit bannen könnten. Manchmal, mit Freunden, scherzt er grimmig: „... literarische Abende, Humor/ und Satire: Wohin mit den Pferden? Ins Sonett, ins Sonett,/ angeschirrt und unter die Knute! Wohin mit den Schafen? Ins Sonett,ins Sonett, ins Schlachthaus unters Messer/ Wohin mit den Menschen? In die Reime/ in die Dramen, in die Gräben, ins Grab!“

Doch bei allem ohnmächtigen Zorn, bei allen nihilistischen Parolen („Denn das Leben ist Sinnlosigkeit, so wie der Tod!“) kann er nie seinen tiefwurzelnden Humanismus verbergen. Die Brücken, die er baut, sind Versuche, den oft beschworenen Abgrund zu queren, die ständig unterbrochenen Verbindungen unter den Menschen wiederherzustellen. Er will keine nationalen Grenzen oder religiöse Barrieren gelten lassen. Rückhaltslos bewundert er den christlichen Ban Kulin, widmet eines seiner schönsten Gedichte den sephardischen Juden und geht mit Dichtern kroatischer Herkunft, besser: egal, welcher Herkunft, an der Miljačka spazieren. Würde er gefragt, was er sei, Serbe, Kroate oder Muslim, er würde bestimmt antworten: Dichter. Balduin Winter

Abdulah Sidran: „Insel bin ich, im Herzen der Welt. Gedichte aus Sarajevo“. Aus dem Serbokroatischen (Bosnischen) von Klaus Detlef Olof. Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec, 50 Seiten, 18 DM

„Mit der Stimme, die ich nicht habe, in der Sprache, die ich nicht habe, von dem Haus, das ich nicht habe, singt mein Lied, Mutter.“