Ruhig reisen, mit klarem Blick

■ Strahlende Wolken. Mit Gianni Celati durch die Poebene

Die Notiz, die den vier Texten in Gianni Celatis Buch „Landauswärts“ vorangestellt ist, läßt Kulturpessimismus befürchten, diese Flucht vor der Irritation, die uns angesichts des Übermaßes an Neuem, dem wir ständig ausgesetzt sind, leicht überkommt. Doch es kommt viel, viel besser, und eigentlich hätte ich mich, in Kenntnis der zwei früheren Prosabücher, die von Gianni Celati schon auf deutsch erschienen sind (bei Wagenbach), nicht zu fürchten brauchen. Wenn es im Text tatsächlich traurig wird, dann nicht, weil der Erzähler ein Miesepeter wäre; er ist ein Mitleidender – etwa mit den Kühen in einem Pferch, die sich „wie Häftlinge ein paar Stunden am Tag an der frischen Luft aufhalten dürfen. Ein Mann, der neben dem Pferch stand, sagte mir, die Traurigkeit dieser Kühe sei ansteckend, er kommt manchmal abends ganz schwermütig nach Hause und wisse nicht warum.“

Unser Autor reist durch jene Ebene, die schon der eigentliche Held der ersten Bücher war: die norditalienische, die man auf Reisen in den Süden immer so rasch durchquert auf den langen Geraden der Autobahnen, daß man eigentlich nichts von ihr sieht und weiß. Der „Erzähler der Ebenen“ geht aber zu Fuß. Das kann nicht gut ausgehen. „Von zwei Carabinieri beim Schreiben überrascht und beinahe verhaftet. Sie fragen, ob ich einen rechtmäßigen Wohnsitz und eine Arbeit habe, was ich hier mache, und geben mir ein Protokoll zum Unterschreiben: ,Wissen Sie, wir glauben Ihnen ja, aber heute früh ist ein Auto gestohlen worden.‘ – ,Aber ich gehe doch zu Fuß!‘ [...] Es muß ihnen der Verdacht gekommen sein, ich sei ein Lehrer, bei dem es im Kopf nicht ganz stimme; aber als sie mich fragen, ob ich für eine Zeitung schriebe, und ich sofort ja sage, wobei ich unheimlich lüge, bin ich in ihren Augen wieder normal geworden. Mir als Journalisten haben sie in ihrem Dienstwagen einen Platz angeboten.“

Celati gelingt es, mit der leisen Komik der Alltagsbanalität auch den ihr stets innewohnenden und zum Ausbrechen bereiten Irrsinn einzufangen. Er ist einer von diesen beängstigend ruhigen Erzählern, wie etwa der englische Altmeister V. S. Pritchett oder der Österreicher Walter Kappacher (dessen neuesten Roman „Ein Amateur“ die auf scharfe Sachen und exotische Gewürze versessene Literaturkritik erwartungsgemäß übersehen hat), zu denen mir der Satz aus Claude Simons „Seil“ einfällt: „Alles Leid der Welt oder all ihre Freude kann ausgedrückt sein in der Art, wie ein Krug oder eine Gabel gemalt ist. Dagegen kann jemand Leute darstellen, die Gewehre oder Schwerter zücken, und andere, die am Boden liegen mit viel Blut drumherum, und es wird weder von nahem noch von weitem das Geringste mit dem zu tun haben, was eine Schlacht ist.“ Eine Schlacht von der unverwechselbar spätmodernen Sorte tobt gerade hinter dem Horizont der „Landschaft mit Atomkraftwerk“: Die Wanderung des Autors erfolgt nämlich im Mai 1986, und durch Zeitungen und Gehirne wallt jene fatale Wolke, die Ende April jenes Jahres von der Ukraine ihren Ausgang nahm. „Als ich vor einigen Tagen in Orbetello beim Einkaufen war, hörte ich eine Frau reden, die sich wie eine arme Irre ereiferte, die Gefahr bestehe ja in den ,Becquerel‘, die es vom Himmel heruntergeregnet habe. [...] Im Fischgeschäft behauptete ein Kunde im Brustton eines hervorragend Bescheidwissenden, daß die Fische ,alle achtzig Prozent verseucht‘ seien; und eine alte Dame antwortete ihm seelenruhig: ,Die müssen Sie nur ordentlich mit Knoblauch kochen, dann besteht keine Gefahr mehr.‘“

Noch eine Vergleichsgröße ist mir eingefallen, auch wegen des Krieges im Hintergrund: die britannische Insel-Umrundungs- Doublette des Jahres 1982, als Paul Theroux zu Lande und Jonathan Raban zu Wasser um Engelland herumfuhren und danach jeder ein wunderbares Buch darüber geschrieben haben: „The Kingdom by the Sea“ und „Coasting“, beide nicht übersetzt (damit wir hierorts beim Ortheil-, Kirchhoff- und Goetz-Lesen nicht aus dem Takt kommen). Damit will ich es belassen und die hoffentlich große Zahl prospektiver Leser nicht weiter aufhalten, sondern mit der ausdrücklichen und strengen Aufforderung schließen: Gehet hin und leset! Leset Gianni Celati! Walter Klier

Gianni Celati: „Landauswärts“. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, 175 Seiten, geb., 34 DM