Der Osmose-Sucher beim Poltergeist

■ Premiere von “Sanftmut oder der Ohrenmaschinist“ in den Kammerspielen

Eins ist schade: Ulrich Wildgruber kann scheinbar nur noch Ulrich Wildgruber spielen. Insbesondere dort, wo es an einer bändigenden Antimaterie fehlt, die seiner kolossalen Autorität eine neue Struktur anlegen kann, entfesselt sich der Wildgrubersche Poltergeist. Dann lachen seine vielen Hamburger Fans, aber die darzustellende Person leidet doch gehörig. Wildgrubers „Beethoven“ etwa, der Dienstag in den Kammerspielen Premiere hatte, blieb ein Phantom, das sich nur im ersten Teil der Vorstellung gelegentlich materialisierte.

Da zeigte Wildgruber Nuancen eines großen Charakters, der im Angesicht seiner durch Taubheit versinkenden musikalischen Welt zwischen Verzweiflung und kindischen Einfällen um Fassung ringt. Gespannt ließ sich streckenweise beobachten, wie er dem überfüttert schlingernden Text von Gert Jonke mit Seele Fahrtrichtung zu geben versuchte. Doch der Wahn des ertaubenden Komponisten, der sich abstruse Maschinen bastelt, um das Gehör wiederzuerlangen und endlich davon überzeugt ist, eine Apparatur zu haben, die seine Gehirnwellen als Töne nach außen trägt, wird spätestens im zweiten Teil sinnlos als Komödie entsorgt.

Doch vor dem reinen Hamburger Allerweltsgeblödel war einer noch vor: Johannes Silberschneider als der Osmose suchende Adlatus Schindler. Der lebte in der Explosion wie im Kriechertum und bestimmte allein das Tempo des Dramas, wie er es wollte. Gegen seine perfekt klingende Operette der niedrigsten und höchsten Gefühle blieben Wildgrubers oftmals verstolperte Wortkaskaden ermüdendes Lawinenwetter. Je weiter dieser sein eigenes Temperament hervorkehrte, umso manischer erfüllte Silberschneider seinen Akt der wunderbaren Verzweiflung.

Allein ihm ist es zu verdanken, daß von einem recht eindimensional am Text geschienten Theaterabend ein außergewöhnlicher Geschmack zurückblieb. Dennoch konnte auch er zwei Mängel nicht überspielen: Zum einen, daß der Text des österreichischen Autors Gert Jonke sich in zu vielen verstiegenen Gedankenschleifen verliert und lange Zeit jedes zwingende Vorankommen vermissen läßt. Und zum anderen, daß sich Regisseur Stephan Barbarino zu sehr auf seine Darsteller und das Wunderkammer-Ambiente von Werner Stadler verläßt und darüber die eigentlichen Taten der Regie vergißt: Die Dämonie der Auswegslosigkeit in unvergeßliche Bilder zu bannen.

Da dasStück mit drei Stunden mindestens eine zu lang ist, könnten man zumindest mit der Streichung der sprachlichen Arabesken dem Spiel jenen Zug verleihen, der jetzt in der letzten halben Stunde beginnt und das wohlwollende Hamburger Publikum bei der Premiere mit Begeisterung reagieren ließ. Till Briegleb