Seltsame neue Welt des Bundes

■ Immer mehr verweigern, und immer mehr wollen ein Leben in Uniform

Das Jahr 1993 vermeldet Hochkonjunktur bei den billigen und unverzichtbar gewordenen Helferlein: Exakt 134.180 Kriegsdienstverweigerer (KDV) leisten ihren Zivildienst ab – mehr als je zuvor. Zu verdanken ist dies einer steigenden Kriegsmüdigkeit unter den jungen Wehrpflichtigen. Ohne Ost-West-Konflikt macht es auch keinen Sinn mehr, durch Schlamm zu robben und auf Pappkameraden zu schießen. Der Golfkrieg versetzte der Dynamik einen zusätzlichen Schub: Innerhalb eines Jahres verdoppelte sich im Kriegsjahr 1991 das Heer der Verweigerer. Die Zahl der KDV-Anträge stieg auf die Rekordmarke von 151.212. Seitdem ist sie nur leicht gesunken. Auch in diesem Jahr wird die Zahl bei über 130.000 liegen.

Doch von diesem Wegweiser in eine pazifistische Gesellschaft führt ein ebenso breiter Pfad in die entgegengesetzte Richtung: Immer mehr junge Männer melden sich freiwillig zum Bund. Von 1992 auf 93 ist die Zahl der Freiwilligen um fast ein Drittel gestiegen. Über einen „sensationellen Meinungsumschwung“ zugunsten der Bundeswehr jubelte denn auch Generalinspekteur Klaus Naumann vorgestern auf der 34. Kommandeurstagung in Mainz. „Die Talsohle der Akzeptanz“ und die der Motivation bei den Soldaten sei durchschritten. Den Weg aus der „Talsohle“ verdankt die „schlanker gewordene“ Bundeswehr jedoch weniger dem neuen Slogan „Du darfst“ als vielmehr der wirtschaftlichen Rezession. Vor allem in den neuen Bundesländern lockt der Bund oft als einziger Arbeitgeber weit und breit. Wo als Alternative nur noch das Sozialamt steht, erscheint die Kaserne als Versorgungseinrichtung auf Luxusniveau. Wer sich hier für mehrere Jahre verpflichtet, bekommt eine Berufsausbildung serviert und ein Anfangsgehalt in dreifacher Höhe des Sozialhilfesatzes. Die „Freiwilligen-Annahmestelle Ost“, zuständig für die neuen Bundesländer, verzeichnet denn auch von 1991 auf 92 Steigerungsraten bei den Bewerbungen um 100 Prozent. Unter allen Anlaufstellen der Bundeswehr ist die im ehemaligen Land der NVA innerhalb von drei Jahren zum unangefochtenen Spitzenreiter avanciert.

Doch auch in der alten Bundesrepublik verzeichnet der Bund Zulauf bei Zeit- und Berufssoldaten. Obwohl der „Ernstfall“ noch nie so nahe war wie jetzt, obwohl angesichts der Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia erstmals wieder von Sterben und Töten geredet wird, wählen wieder mehr junge Männer das Berufsziel „Soldat“. Im vergangenen Jahr verpflichteten sich nach Ablauf ihres Grundwehrdienstes so viele Rekruten als Zeit- oder Berufssoldaten, daß die Bundeswehr plötzlich vor einem absurden Problem stand: sie konnte zeitweilig keine neuen Rekruten einziehen, weil Jobs und Gelder längst von Freiwilligen okkupiert waren. Und etliche Grundwehrdienstleistende hängten auch an die zwölfmonatige Pflicht von sich aus noch einen mehrmonatigen „Dienst an der Waffe“ dran – weil sie nichts Besseres zu tun hatten und damit die Arbeitslosigkeit hinausschieben wollten.

Mit der steigenden Zahl von Freiwilligen und der gleichzeitigen Reduzierung der Bundeswehr auf eine Truppenstärke von 370.000 Mann könnte jedoch auch ein Streitthema der letzten Jahre schleichende Realität werden: die Berufsarmee. Schon jetzt steht 164.000 Wehrdienstleistenden eine deutliche Mehrheit von Uniformierten gegenüber, die zumindest für einen längeren Zeitraum unter der Rubrik Berufsbezeichnung als „Soldat“ eingetragen sind.

Und wenn die Bundeswehr im kommenden Jahr um weitere 20.000 Mann abspeckt, werden sich die Gewichte noch weiter verschieben.

Vera Gaserow, Berlin