„Zivildienst ist Zwangsarbeit“

Stell dir vor, es gibt Wehr- und Zivildienstpflicht – und sie wird abgeschafft. Auf einer Tagung in Bremen diskutierten Experten sozialer Dienste zusammen mit Regierungsvertretern das „Was wäre, wenn“. Große Überraschung am Rande: Ein Zivi ist längst nicht so billig wie gemeinhin angenommen.

„Unvorstellbar!“ – „Schrecklich!“ „Eine absolute Katastrophe!“

Die Vertreter der großen Wohlfahrtsorganisationen von der Arbeiterwohlfahrt bis zum Diakonischen Werk geizten nicht mit starken Worten, als ihnen gestern auf einer Fachtagung in Bremen die – eigentlich gar nicht mehr so hypothetische – Frage gestellt wurde: Was wäre, wenn die Pflicht zum Dienst an der Waffe in Deutschland aufgehoben und damit auch der Zivildienst abgeschafft würde? Viele Bereiche der sozialen Dienste, insbesondere die Pflege und Betreuung schwerstkranker und mehrfachbehinderter Menschen, sind ohne die inzwischen 135.000 Zivis nicht mehr denkbar.

Andererseits wollen sich gerade die Sozialverbände nicht zu Verfechtern des Kriegsdienstes machen lassen. „Gefragt sind Ideen für eine Konversion nicht nur im Rüstungs-, sondern auch im Sozialbereich“, hatte Pastor Ulrich Finkh, der Vorsitzende der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer, denn auch in der Tagungseinladung formuliert.

Mit einem schlagenden Zahlenspiel verblüffte der Bremer Professor und Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Jürgen Blandow: Zivildienstleistende seien gar nicht so billig, wie immer angenommen wird. Rund 30.000 Mark müßten Bund, Länder und Sozialträger insgesamt pro Zivildienstleistenden im Jahr ausgeben – alle Kosten für Musterung, Verwaltung und Rentenversicherung eingerechnet. Dagegen sei eine hauptamtliche Kraft im Sozialbereich mit Jahresgesamtkosten von gut 40.000 Mark gar nicht so viel teurer. Wollte der Staat also die gesamte Arbeit, die heute von Zivildienstleistenden verrichtet wird, an festangestelltes Personal übergeben, müßte „volkswirtschaftlich gesehen nur rund eine Milliarde Mark im Jahr aufgebracht werden“, so Blandow.

Doch so einfach wollte Dieter Hackler, 40, Bundesbeauftragter für den Zivildienst, diese Rechnung nicht durchgehen lassen. Denn das eigentliche Problem sei doch, „daß wir in ganz vielen Sozialbereichen überhaupt kein qualifiziertes Personal mehr finden“. Der Zivildienst habe lediglich dazu geführt, „daß wir uns an dieses Defizit in unserer Gesellschaft hervorragend gewöhnt haben“. Die eigentliche Frage sei doch: „Wie kriegen wir eine Aufwertung der sozialen Berufe hin?“

„Der Zivildienst ist dafür auch eine Chance“, meinte Ilse Wehrmann vom Bremer Diakonischen Werk, „die jungen ZDLer sind für uns ganz wichtige Multiplikatoren.“ Und der Leiter einer Zivildienst-Bildungsstätte ergänzte: „Wir sind eine Stätte sozialen Lernens, die für unsere Gesellschaft dringend notwendig ist.“ Andererseits sei der tatsächliche Verlauf des Zivildienstes allerdings oft ein richtiges Abschreckungsprogramm: „Da erleben die jungen Männer hautnah, wie schlecht Arbeitsbedingungen und Bezahlung im Sozialbereich sind.“ Als „Ablenkungsmanöver“ wies Bremens Staatsrat für Soziales, Christoph Hoppensack, die Diskussion um mangelnde Fachkräfte im Sozialbereich zurück. Zumindest in Bremen „würde der Arbeitsmarkt die Ersetzung aller Zivildienstleistenden problemlos hergeben“. Schließlich müßte da ja nur ungelerntes gegen ungelerntes Personal ausgetauscht werden. Dies wiederum brachte den Personalrat eines großen Bremer Krankenhauses auf die Palme: „Wir sind heilfroh, daß wir es inzwischen geschafft haben, alle Zivildienststellen in der Pflege durch Fachpersonal zu ersetzen“, sagte er und ergänzte: „Zivildienst ist eben Zwangsarbeit, und die verträgt sich überhaupt nicht mit unseren Aufgaben.“

Doch was im Krankenhaus durch die Finanzierung der Krankenkassen offenbar möglich ist, muß in anderen Sozialbereichen noch lange nicht funktionieren. „Wenn wir keine Zivildienstleistenden hätten, müßten wir den Pflegesatz in der Betreuung schwerstbehinderter Kinder um 40 bis 50 Mark pro Tag erhöhen“, hat Ilse Wehrmann vom Bremer Diakonischen Werk ausgerechnet. Ein kurzer Blick zum neben ihr sitzenden Bremer Finanzsenator Volker Kröning reichte, um ihr gestern deutlich zu machen, was das bedeutet: „Ohne Zivildienstleistende müßten wir diese Arbeit einstellen.“

An die – volkswirtschaftlich ja durchaus denkbare – Umverteilung der Ausgaben für Kriegs- und Zivildienst vom Bund auf die Länder glaubt in Expertenkreisen nämlich niemand. Da war es gar nicht nötig, daß der Bundesbeauftragte für den Zivildienst, Hackler, daran erinnerte, daß so etwas „schon formalrechtlich nicht möglich“ sei.

Bremens Finanzsenator Kröning kann sich denn auch die Abschaffung der Wehrpflicht nur so vorstellen: „Wir brauchen so schnell wie möglich auf Bundesebene eine Enquetekommission, die einen Rahmenplan für die beiden Bereiche der Konversion im militärischen wie im Zivildienstbereich erarbeitet.“

Dirk Asendorpf, Bremen