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Rußlands Föderationsrat hat sich überlebt

■ Nach der Auflösung des Obersten Sowjets sollte der Rat zur neuen Legislative werden, doch nun wird Forderung nach Neuwahl der regionalen Parlamente laut

Moskau (taz) – Die Karten werden neu gemischt in Moskau. Der gescheiterte Putsch der Ultrarechten hat den Kreml mit neuem Selbstbewußtsein ausgestattet. Bis letzten Sonnabend buhlte er um die Zustimmung des Föderationsrates. Ihm gehören Vertreter der Exekutive und Legislative der einzelnen Regionen an. Ursprünglich hatte Jelzin gehofft, mit Hilfe dieses Gremiums eine neue Verfassung zu verabschieden.

Da der Volksdeputiertenkongreß sich kategorisch verweigert hatte, bot der Föderationsrat sich als ein halbwegs legitimiertes Instrument an. Allerdings spiegeln sich auch in ihm die Gegensätze der Gewalten auf föderaler Ebene wider. Dennoch überlegte man nach Auflösung des Parlamentes, bis zu Neuwahlen dem Rat gesetzgeberische Vollmachten zu übertragen. Doch die für diese Woche anberaumte Sitzung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, während die Tonart des Kreml gegenüber den Provinzen bestimmter geworden ist.

Nach den blutigen Ereignissen stellt sich die Frage, welche Rolle der Rat spielen kann, neu. Etwa die Hälfte der noch in kommunistischer Zeit gewählten örtlichen Parlamente stützte Chasbulatow. In Nowosibirsk rief der Vorsitzende zum Generalstreik auf und ordnete an, die Versorgungslinien in den europäischen Teil Rußlands zu kappen. Die Bevölkerung zog nicht mit. So wurde der Vorsitzende durch Jelzin inzwischen in den Ruhestand versetzt.

In den letzten Tagen forderten demokratische Organisationen in den Provinzen Moskau auf, auch die örtlichen Organe neu wählen zu lassen. Sie warnten den Präsidenten, den gleichen Fehler nicht zum zweiten Mal zu begehen: Nach dem Augustputsch 91 hatte er keine Neuwahlen erwogen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die lokalen Gesetzgeber nach Wahlen ein anderes Gesicht bekommen. Das Ressentiment der Provinzen gegenüber dem Zentrum bedeutet nicht automatisch, daß die Bevölkerung deshalb die alten Kräfte wiederwählt. Den Regionen geht es vornehmlich um größere Selbständigkeit gegenüber dem Zentrum. Bis heute werden die Kinopreise in Wladiwostok im 8.000 Kilometer entfernten Moskau festgelegt. Somit ist die Forderung berechtigt, die Rußland auf Dauer nur stärken wird.

Die Verlagerung von Entscheidungsgewalten aus Moskau in die Provinz werden die unterschiedlichsten politischen Kräfte verlangen. Die Provinzfürsten haben kürzlich eine Menge Lärm geschlagen und sich dadurch selbst Mut gemacht. Sie überschätzen ihre Macht. Welches Organ vorübergehend den Gesetzgeber ersetzt, bleibt offen. Klaus-Helge Donath

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