Zwei-Kind-Norm statt Selbstbestimmung

Die Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo wird zum Meilenstein auf dem Weg zur weltweiten Durchsetzung der Zwei-Kind-Norm / Familienplanung wird als Allheilmittel für die Probleme des Südens propagiert  ■ Von Heide Mertens

In einem Jahr, Anfang September 1994, wird Kairo der Schauplatz für die alle zehn Jahre stattfindende Weltbevölkerungskonferenz sein. Ein weiteres internationales UN-Spektakel, einberufen vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, bei dem es um die weltweite Bevölkerungsentwicklung geht, um Geburtenraten, Sterberaten, Wanderungsbewegungen und um Geburtenkontrolle. RegierungsvertreterInnen, EntwicklungshelferInnen, GesundheitsministerInnen und ExpertInnen aus internationalen und nationalen Organisationen werden darüber beraten, wie Verhütungsmittel weltweit am besten an die Frau zu bringen sind und über das dafür benötigte Geld feilschen.

Die bundesdeutsche Öffentlichkeit wird schon in absehbarer Zeit durch Veranstaltungen, Zeitungsartikel, Funk- und Fernsehbeiträge und Seminare medienwirksam auf Kairo vorbereitet werden. Die Öffentlichkeit soll für die nationalen und globalen Bevölkerungsprobleme sensibilisiert werden, um Akzeptanz für Themen und Programme zu schaffen, die in der Bundesrepublik nach 1945 zunächst tabu waren, heute aber Konjunktur haben. Die Wachstumsraten der nichteuropäischen Bevölkerungen werden unserer eigenen abnehmenden Bevölkerungszahl gegenübergestellt. Ängste vor dem Fremden und allem nicht den europäischen Normen Entsprechenden werden geschürt.

Die Probleme des Südens werden nicht selten auf das Bevölkerungswachstum reduziert. Im Blickfeld stehen Kinder, die in den Medien von armen, unterdrückten, unterernährten und ungebildeten Frauen zur Welt gebracht werden und eine Belastung für die ohnehin strapazierte Welt darstellen. Falls sie es schaffen, so suggerieren die Fotos, trotz dieser schlechten Bedingungen erwachsen zu werden, drohen sie als MigrantInnen zu uns zu kommen und einen Teil unseres Wohlstandes einzufordern.

Selbst wenn Darstellungen differenzierter sind und andere Faktoren für Umweltzerstörung und Armut benennen, bleibt dem Betrachter nicht selten vor allem jenes abschreckende, Ängste schürende Bild in Erinnerung. Es hilft, die eigene europäische Schuld an Armut und Umweltzerstörung zu verdrängen. Der europäische liberale Fortschritts- und Emanzipationsgeist kann sich wieder einmal als Retterin in der Not aufspielen: Das düstere Bild wird gewendet und als Lösung erscheint die moderne Kleinfamilie. Die Zauberformel heißt Familienplanung. Gemeint ist die Reduzierung der Kinderzahl mit Hilfe moderner Verhütungsmittel, die die Frau während ihres ganzen gebärfähigen Alters zur Patientin machen.

Familienplanung wird propagiert als Allheimittel gegen Armut, Frauenunterdrückung, schlechte Gesundheit von Müttern und Kindern, Arbeitsplatzknappheit, Umweltzerstörung und neuerdings auch für die nationalen und internationalen Flüchtlingsprobleme. So ist es nachzulesen in den Weltbevölkerungsberichten der letzten Jahre oder im Förderkonzept „Bevölkerungspolitik und Familienplanung“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Niemand wagt in solchen offiziellen Programmen Bevölkerungswachstum als die alleinige Ursache der Probleme hinzustellen. Denn jeder weiß, daß viele Kinder eher die Folge als die Ursache von Armut, ungerechter Verteilung, hoher Kindersterblichkeit und selbst der Verschlechterung der Umweltbedingungen sind. Denn immer noch gilt in vielen Regionen des Südens, daß die einzige Hoffnung auf soziale Sicherheit und Unterstützung im Alter Kinder sind. Kinder werden für ihre Eltern unter sich verschlechternden Umweltbedingungen sogar zur Energieressource, denn sie helfen beim Sammeln von Feuerholz und Wasserholen, wenn die Wege dafür weiter werden. Kinder in den Industrieländern dagegen verbrauchen schon im Kindesalter ein vielfaches an Energie, Wasser und Rohstoffen und produzieren bereits im Babyalter riesige Müllberge. Welches afrikanische Baby hinterläßt schon in seinen ersten Lebensjahren einen Berg von 5.000 schlecht abbaubaren und nicht wiederverwertbaren Höschenwindeln, die zudem unter nicht unbeträchtlichem Einsatz von Energie, Wasser und Chemikalien erst hergestellt werden müssen?

In den Weltbevölkerungsberichten, die der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen herausgibt, werden Zusammenhänge durchaus differenziert dargelegt. So widmet sich der Bericht von 1993 der weltweiten Migration. Landflucht und Zuwanderung in die Städte werden dargestellt als Folge der Zerstörung der Existenzgrundlage der kleinen bäuerlichen Betriebe durch einseitige, exportorientierte Entwicklungspolitik und der entsprechenden Vernachlässigung der Produktion für den eigenen Markt. Trotzdem wird als vorrangiger und konkretester Schritt die Einführung von Familienplanungsdiensten auf dem Land gefordert, um zusätzliche überflüssige Arbeitskräfte zu verhindern. Familienplanung wird so zum Instrument einer staatlichen Bevölkerungspolitik, deren oberstes Ziel die Reduzierung der Geburtenraten ist. Jedes verteilte, verabreichte oder verkaufte Verhütungsmittel dient als Maß des Erfolges. 52 Kondome, zwölf Pillenzyklen, vier Dreimonatsspritzen oder eine Sterilisation werden umgerechnet in mindestens eine verhinderte Geburt.

In Afrika leben heute etwa 650 Millionen Menschen und damit nur gut zwölf Prozent der Weltbevölkerung. Weite Teile des Kontinents können immer noch als eher dünn besiedelt bezeichnet werden. So leben in Somalia im Schnitt nur vier Menschen auf einem Quadratkilometer. Dennoch weisen die afrikanischen Länder zur Zeit mit durchschnittlich knapp drei Prozent im Jahr die weltweit höchsten Bevölkerungswachstumsraten auf. Afrikanische Frauen haben statistisch die meisten Kinder und benutzen die wenigsten modernen Verhütungsmittel. Das macht sie zur Zielgruppe verstärkter Bemühungen der internationalen Organisationen um die Etablierung von Bevölkerungsprogrammen.

Im Gegensatz zu asiatischen und einigen lateinamerikanischen Ländern, in denen Bevölkerungspolitik mit allen Begleiterscheinungen wie Massensterilisationen, Medienkampagnen und Tests mit umstrittenen Verhütungsmitteln bereits Tradition haben, konnten die afrikanischen Regierungen in der Mehrzahl erst unter dem zunehmenden, durch die Schuldenkrise ausgelösten ökonomischen Druck und den wachsenden sozialen und ökologischen Problemen in ihren Ländern davon überzeugt werden, daß Bevölkerungswachstum die Entwicklung ihrer Länder beeinträchtige. Im Rahmen der Umschuldungsverhandlungen und der Einführung von Strukturanpassungsprogrammen konnte in den achtziger Jahren die Einrichtung von Bevölkerungsprogrammen durchgesetzt werden.

Die Umsetzung der Programme in die Praxis verläuft nach Strickmustern, die in anderen sogenannten Erfolgsländern wie Thailand längst erprobt wurden. Neben der Einrichtung von Kliniken und Familienplanungszentren und dem Training von medizinischem Personal werden heute sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch andere Entwicklungsprojekte im Gesundheits- und Grundbedürfnisbereich in die Programme einbezogen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß der staatliche Gesundheitssektor allein die Akzeptanz von Verhütungsmitteln nicht steigern kann. Vielmehr sollen sowohl nichtstaatliche Organisationen und andere Entwicklungshilfeprojekte bei den von ihnen erreichten Frauen für Familienplanung werben.

Im katholischen Ruanda zum Beispiel beteiligen sich auch kirchliche Einrichtungen im Rahmen ihrer Frauenprogramme an der staatlichen Familienplanung. Sie unterrichten Methoden zur „natürlichen Empfängnisverhütung“, und verteilen in ihren Gesundheitszentren Verhütungsmittel. Die Einbeziehung des Marktes bedeutet, daß Pillen und Kondome von Gesundheitshelfern in Hausbesuchen verkauft werden. Die Vermarktung der Pille und auch der Dreimonatsspritzen unterliegt dabei keiner Rezeptpflicht. Die MitarbeiterInnen sind meist nur insoweit ausgebildet, daß sie die richtige Einnahme der Pille erklären können und die wichtigsten Gegenindikationen kennen. Andere werden nur für das Einsetzen der Spirale, des Implantats Norplant oder die Verabreichung der Dreimonatsspritze geschult. Zur Ausbildung aller MitarbeiterInnen gehört die sogenannte „Erziehung zur Familienplanung“. Das bedeutet oft nichts anderes als die Verbreitung stereotyper Weisheiten wie „Zwei Kinder – glückliche Familie“ oder „Ein Eimer Wasser wiegt leichter als fünf Eimer“. Die sachliche Aufklärung über Vor- und Nachteile verschiedener Verhütungsmethoden, ihre Neben- und Langzeitwirkungen steht im Hintergrund und übersteigt in der Regel das antrainierte Wissen der MitarbeiterInnen. Selten und in offiziellen Programmen nicht vorgesehen ist auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit Themen Sexualität, Fortpflanzung, Partnerschaft und Familie.

Familienplanungsprogramme in Afrika versuchen die durch Kolonialisierung und Modernisierung zerstörten traditionellen sozialen Systeme zur Geburtenregelung durch technokratische Konzepte zur Verbreitung moderner Verhütungsmittel zu ersetzen. So bestanden in polygamen Stammesgesellschaften unterschiedliche durchaus wirksame Regelungen zur Begrenzung der Geburtenzahl und zur Einhaltung längerer Abstände zwischen den Geburten. Lange Stillzeiten verbunden mit Abstinenz, in der der Mann bei seinen anderen Frauen schlief, sowie die rituelle Einführung von Mädchen in die Rolle als Frau, bei der auch Wissen über Sexualität, Schwangerschaft und Geburt vermittelt wurden, bildeten die Voraussetzung für solche Regeln, die nicht unbedingt Autonomie und Macht, aber innerhalb der Gemeinschaft bestimmte Rechte, Handlungspositionen und Sicherheit boten. Für Fälle von sozial unerwünschten Schwangerschaften z.B. bei sehr jungen Frauen oder bei zu kurzen Abständen zwischen den Schwangerschaften existierte auch Wissen über Möglichkeiten der Abtreibung. Die Zahl der durchschnittlichen Kinderzahl in Afrika ist nicht nur durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung gestiegen, sondern vor allem durch das Aufbrechen solcher Zusammenhänge, die das Funktionieren traditioneller Geburtenkontrolle ermöglichten.

Frauen erfahren die fortschreitende soziale Desintegration besonders hart. Als Migrantinnen in den Städten, wo sie ihren und ihrer Kinder Lebensunterhalt als Hausangestellte oder kleine Händlerin zu verdienen suchen oder als Bäuerinnen auf dem Land, wo sie nach der Migration der Männer nicht selten alleine das Land bewirtschaften müssen, haben sie es besonders schwer, Zugang zu Kapital, gesichertem Einkommen und rechtlicher Absicherung zu bekommen. Sie sind auf dem Land wie in der Stadt zusätzlich belastet durch die wachsenden Schwierigkeiten, sauberes Wasser und Brennholz zu beschaffen.

Es grenzt an Zynismus, Frauen in dieser Situation immer wieder und zu allererst Geburtenkontrolle als Lösung ihrer Probleme anzubieten. Zwar haben sie meist eine recht genaue Vorstellung darüber, wie viele Kinder sie wollen, und sie gehen durchaus freiwillig und lassen sich Dreimonatsspritzen verabreichen. An ihrer Armut und der ihrer Kinder ändert das aber nichts. Über die psychischen und physischen Auswirkungen dieser umstrittenen Verhütungsmethode, die in Ländern wie Simbabwe, Kenia und Ruanda neben der Pille zu den gängigen angebotenen Verhütungsmitteln zählt, ist aus den afrikanischen Ländern bisher wenig bekannt geworden.

Unreflektiert wird unser eigenes technokratisches und medizingläubiges Fortschritts- und Emanzipationsmodell hier übertragen. Ein auf die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln reduzierter Begriff von Selbstbestimmung wird auch in den Industrieländern zunehmend kritisiert. Selbstbestimmung wird hier oft leichtfertig mit der Kontrolle des weiblichen Körpers durch die Medizin verwechselt. Bei ersten pubertären Menstruationsbeschwerden wird die Pille verschrieben. Später dienen die Hormone zur Verhütung, dann der Stimulation der geplanten, für die Frau immer noch dazugehörigen Schwangerschaften. Zum guten Schluß werden Frauen Hormone verabreicht, um mit der Menopause fertig zu werden. Statt Selbstbestimmung gilt für Frauen ein Lebensmodell, das ihnen, geregelt durch Hormone, das moderne Rollenbild der ewig jungen, attraktiven, teilzeitarbeitenden Mutter zweier allen Qualitätsnormen entsprechenden Kinder vorschreibt. Die gleichzeitige ideologische Verteufelung und der de facto erschwerte Zugang zur Abtreibung stellt eine weitere Einschränkung der Selbstbestimmung dar.

Es bleibt abzuwarten, ob es im Zuge der Konferenz von Kairo gelingt, Kritik an den technokratischen Programmen der Bevölkerungsexperten publik zu machen. Unklar ist, inwieweit Frauengruppen, Netzwerke oder unabhängige Expertinnen überhaupt zu Bevölkerungspolitik, neuen Reproduktionstechnologien und Familienplanungsprogrammen in Kairo Stellung nehmen können. 1984 auf der letzten Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko mußten die Frauen, die gegen die Verbreitung der Dreimonatsspritze protestierten, draußen bleiben.

Heide Mertens ist Autorin des Buches: „Wunschkinder. Natur, Vernunft und Politik“, Münster 1991