Hat das Bundesgesundheitsamt geheime Aids-Akten im Schuhkarton gebunkert, um Pharmafirmen zu schützen? Um eigene Fehler zu vertuschen? Oder übt Minister Seehofer nur Rache, wie die Gefeuerten klagen? Aus Berlin Manfred Kriener

Böses Blut im Karton

Es war ein Paukenschlag mit Ansage. Schon am Montag hatten die Zeitungen berichtet, daß Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer die Spitze des Bundesgesundheitsamtes (BGA) zum Rapport nach Bonn einbestellt hatte, weil er über die Informationspolitik der Berliner Behörde stinksauer war. Nicht zum ersten Mal. Konkreter Anlaß diesmal: Seehofer (CSU) mußte aus der Presse erfahren, daß die Koblenzer Firma UB-Plasma-Labor offenbar HIV- verseuchtes Blut an bayerische Krankenhäuser geliefert und wieder zurückgezogen hatte. Jetzt, so verlautete aus dem Bonner Ministerium, wolle der Minister personelle Konsequenzen ziehen.

Die kamen dann mit einer Schärfe, die man Seehofer nicht zugetraut hätte: BGA-Chef Großklaus wurde gefeuert und mit ihm noch der Bonner Aufsichtsbeamte für die Berliner Behörde, Steinbach, als „Opfer des Ministeriums“. Dazu hagelte es Dienstaufsichtsbeschwerden gegen den Leiter des BGA-Instituts für Arzneimittel, Hildebrand, seinen Stellvertreter Kreuz und gegen den Chef des Aids-Zentrums am BGA, Koch.

Die Begründung für Rausschmiß und Disziplinarverfahren war dann aber eine ganz andere: 373 Verdachtsfälle von HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte soll das Berliner Amt über Jahre unter der Decke gehalten und nicht an das Bonner Ministerium weitergeleitet haben. Wie diese Decke aussieht, glaubt der Berliner Pharma-Kritiker Ulrich Moebius – jahrelanger Herausgeber des Arzneimittel-Telegramms – zu wissen. Die Unterlagen hätten sich, gesammelt in Schuhkartons, in den Schubladen der Beamten befunden. Dort seien sie bewußt zurückgehalten worden, um die Hersteller der verseuchten Blutprodukte zu schützen. Anhand der Dokumente, so Moebius weiter, lasse sich zurückverfolgen, welche Blutprodukte HIV-infiziert waren und welche Firmen Verantwortung tragen. Ein Komplott zwischen Pharmafirmen und Bundesgesundheitsamt?

Die von der Entlassung Betroffenen sehen das völlig anders. Wie die taz gestern erfuhr, werfen sie dem Bonner Gesundheitsminister vor, daß er die ganze Angelegenheit nicht überblicke und offenbar einige alte Rechnungen begleichen wolle. Die Liste der 373 Fälle sei niemals geheim gewesen und dem Bonner Minister nach Beendigung des letzten Rapports beinahe selbstverständlich überreicht worden. Sie enthalte auch keine sensationell neuen Erkenntnisse, da sowohl im Aids-Fallregister als auch in der BGA-Statistik über HIV-Infektionen die Bluter-Fälle detailliert aufgeführt seien. Warum also der große Wirbel?

Klarheit wird vielleicht der heutige Freitag bringen, wenn die BGA-Beamten dem Bonner Gesundheitsausschuß Bericht erstatten werden. Verantwortlich für die Dokumentation der 373 Fälle ist das Arzneimittel-Institut des BGA. Hier werden die Meldungen von Ärzten und Pharmaunternehmen über „unerwünschte Nebenwirkungen“ aller zugelassenen 70.000 Medikamente gesammelt. Zu den Nebenwirkungen gehört auch eine HIV-Infektion durch die große Palette der Blutprodukte (Vollblut, Plasmaprodukte, Gerinnungspräparate, aus Blut gewonnene Impfstoffe). 373 Meldungen sind, seitdem es HIV und Aids gibt, von Ärzten und Pharmafirmen in den letzten zehn Jahren dem Berliner Amt angezeigt worden. Der vermutete Infektionszeitpunkt der gemeldeten Fälle lag zum allergrößten Teil vor dem Jahr 1985. Im Oktober 1985 war vom BGA endlich der HIV-Test für alle Blutspenden vorgeschrieben worden. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Blutprodukte an Bluter und andere Empfänger verabreicht, ohne daß sie inaktiviert oder auf HIV getestet waren. Anhand der BGA-Unterlagen müßte sich jetzt feststellen lassen, wie hoch die Zahl der Infektionen ist, die sich nach dem Oktober 1985 ereignet haben. Nach Informationen der taz soll es sich um 30 bis 40 der 373 Fälle handeln, die möglicherweise durch alte, nicht rechtzeitig vom Markt zurückgerufene Blutprodukte oder durch neue, doch noch verseuchte Medikamente zustandekamen. Diese Zahlen werden am Freitag vorgelegt.

Daß bei den Entlassungen von Großklaus und Steinbach auch andere Gründe als die 373 Blut-HIV- Fälle eine Rolle spielen, wurde im Hause Seehofer gestern offen eingeräumt. Der Minister ist seit langem mit dem BGA über Kreuz, weil er sich nicht ausreichend informiert fühlt. Ob in Sachen Rinderwahn neue Erkenntnisse vorliegen oder Dämmstoffe aus Mineralfasern als krebserregend Schlagzeilen machen: Stets erhält der Minister seine Infos aus der Zeitung. Die behäbige Berliner Behörde kleckert viel zu spät oder gar nicht mit ihren Informationen hinterher. Die 373 unterschlagenen Fälle waren, so eine Beamtin des Hauses, „nur die Spitze des Eisbergs“. Seehofer wolle jetzt eine Neuorganisation des BGA durchsetzen und gründlich aufräumen. Grund dafür wird auch der katastrophale Ruf der Berliner Behörde sein. In jahrelangen Skandalen von Asbest über Formaldehyd, Holzschutzmittel bis zur Gentechnik hat sich die Behörde den Ruf der Gesundbeter und Verharmloser erworben, die allzu oft mit der Industrie mauscheln.

In Sachen Aids wird dem BGA vorgeworfen, viel zu spät (siehe Chronik) auf das Hereinbrechen des Virus reagiert zu haben. Doch ausgerechnet dieser zentrale Vorwurf an das BGA scheint bei Seehofers Entscheidung keine Rolle zu spielen. Ein schuldhaftes Verhalten durch eine verzögerte Reaktion auf die Aids-Krise mag er den geschaßten und disziplinierten Beamten nicht vorwerfen.

Beobachter erwarten indessen, daß, ähnlich wie in Frankreich, jetzt auch in der Bundesrepublik die gesamte Geschichte des Blut- Aids-Skandals nochmals aufgerollt wird. Der SPD-Abgeordnete Horst Schmidbauer, der die Zusammenhänge ein Jahr lang recherchiert und in einem umfangreichen Dossier dokumentiert hat, steht schon in den Startlöchern. Und mit ihm warten die Betroffenen auf Aufklärung.

Bisher haben sich in der Bundesrepublik mehr als 2.000 Menschen durch erhaltene Transfusionen und Blutprodukte mit HIV angesteckt. Eine exakte Zahl kann niemand nennen, weil viele Infizierte noch unbekannt sind. Etwa 1.800 von ihnen sind Bluter, die übrigen Krankenhauspatienten, die während ihrer Behandlung Bluttransfusionen oder Blutprodukte erhalten haben. 400 Menschen, die sich über Blutprodukte angesteckt haben, sind inzwischen gestorben.