Heftiger Gelehrtenstreit um die Gebärdensprache

■ Wie sollen Gehörlose lernen? Befürworter und Gegner eines Schulversuchs befehden sich     Von Sigrun Nickel

Können Hände sprechen? Lautlos und schnell malen Finger Symbole, bewegen sich Körper und Mund der Frau, die den vor ihnen sitzenden Kindern eine Geschichte erzählt. Aufmerksam gucken die SchulanfängerInnen auf die lebhaften Gesten. Gebärdensprache heißt die Zeichenflut, mit der Jutta Schwarz, gehörlose Lehrerassistentin an der Hamburger Samuel-Heinicke-Schule, ihre ebenfalls gehörlosen SchülerInnen in den Bann zieht. Die Kleinen wissen noch nicht, daß ihre geräuschlose Art der Kommunikation einen hochemotionalen Streit in der Gehörlosenpädagogik ausgelöst hat, eingebettet in den gerade begonnenen Kampf etlicher deutscher Gehörloser um ihre Anerkennung als sprachliche Minderheit mit eigenständiger Kultur.

Die bislang größte und machtvollste Demonstration des politischen Anspruchs auf mehr Akzeptanz sollen die ersten deutschen Kulturtage der Gehörlosen werden, die kommende Woche, vom 14. bis 17. Oktober, zusammen mit dem Kongreß zur Zweisprachigkeit Gehörloser in der Elbmetropole stattfinden (siehe auch Kasten unten). Daß die Premiere dieses „Höhepunktes in der Geschichte der Gehörlosen“ (Programmtext) in der Hansestadt stattfindet, ist kein Zufall. Denn die hiesige Universität, Mitinitiator der Mammutveranstaltung, ist derzeit die Hochburg für die Erforschung und Anwendung der deutschen Gebärdensprache.

Im Zentrum für deutsche Gebärdensprache an der Rothenbaum-chaussee erforschen dessen MitarbeiterInnen, darunter viele Gehörlose, Struktur und Vokabular des lautlosen Kommunikationsmittels. Außerdem starteten vor kurzem die neuen Studiengänge „Deutsche Gebärdensprache und Gehörlosenkultur“ und „Gebärdensprachendolmetschen“, seit fünf Jahren ist ein integriertes Studium Gehörloser mit Hilfe von Gebärdensprachendolmetschern möglich. Jüngstes und höchst umstrittenes Projekt des Zentrums ist die Mitwirkung bei der Konzeption eines vor zwei Monaten angelaufenen Schulversuchs an der Hamburger Samuel-Heinicke-Schule für Gehörlose, der bislang einmalig ist im Lande.

Fast drei Jahre dauerte es, bis eine Elterngruppe – unterstützt von PädagogInnen, Interessenverbänden der Gehörlosen und eben dem Uni-Zentrum – jetzt erstmals den Einsatz der deutschen Gebärdensprache, kurz DGS genannt, im Unterricht durchsetzte. Innerhalb der Gehörlosenpädagogik tobt schon seit längerem ein vehementer Streit darüber, ob die Anwendung der DGS für Kinder, insbesondere in der Frühförderung, schädlich oder förderlich ist. Gekämpft wird mit harten Bandagen, vor allem von seiten der Gegner des Gebärdensprachenansatzes.

Beide Lager stehen sich inzwischen so feindlich gegenüber, daß ein Gespräch kaum noch möglich erscheint. Am gleichen Wochenende, an dem sich in Hamburg die Verfechter der Gebärdensprache treffen, tagen in Porta Westfalica die KritikerInnen der DGS. Dieser Riß innerhalb der Gehörlosenpädagogik setzt sich bis ins Kollegium der Samuel-Heinicke-Schule fort, wo hart um den Schulversuch gekämpft wurde.

Frustrationen und Minderwertigkeitsgefühle

Die Brisanz erschließt sich auch nur, wenn man weiß, daß die Gebärdensprache bis heute im Schulunterricht für Gehörlose nicht zugelassen ist. Die Ausbildung, ausschließlich von hörenden PädagogInnen durchgeführt, zielt einzig darauf ab, den Hörbehinderten die Lautsprache beizubringen. Da viele aber nie richtig sprechen lernen, sich in der Gebärdensprache dagegen mühelos ausdrücken können, bleiben Frustrationen und das Gefühl, minderwertig zu sein. Nicht mehr nur Anpassung an die Welt der Hörenden, sondern stolz sein auf die eigenen Leistungen – das wollen viele Gehörlose.

In der Samuel-Heinicke-Schule werden die Klassen eins und zwei jetzt stundenweise zweisprachig, das heißt in DGS und in deutscher Lautsprache unterrichtet. Grundlage dafür ist der sogenannte „bilinguale Ansatz“ von Siegmund Prillwitz, Professor für Linguistik und Gründer des Hamburger Zentrums für Gebärdensprache. Danach soll der Einsatz der Gebärdensprache, quasi als eine Art „Muttersprache“ der Gehörlosen, sowohl Lernerfolge verbessern als auch die soziale und kognitive Entwicklung entscheidend fördern. Das den Gehörlosen zugänglichere Kommunikationsmittel kann helfen, Inhalte besser zu verstehen und den Zugang zur deutschen Normal-Sprache zu erleichtern. Denn nicht nur der Erwerb der fremden Laut-, sondern auch der Schriftsprache stellt ein immenses Problem dar. Auf der Basis der DGS kann die deutsche Lautsprache wie eine Fremdsprache erlernt werden.

Ganz anderer Meinung ist dagegen Christiane Hartmann-Börner, Gehörlosenpädagogin an der Samuel-Heinicke-Schule und Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen (BDH). Zusammen mit etlichen KollegInnen an der Samuel-Heinicke-Schule hatte sie versucht, den Einsatz der DGS in Unterricht zu verhindern, da diese der Integration Gehörloser in die Welt der Hörenden gefährde. Als Vertreterin des sogenannten „hörgerichteten Ansatzes“, der seit rund 15 Jahren in der Bundesrepublik Fuß zu fassen beginnt, gibt es für sie zunächst keine gehörlosen Kinder. „Bis zum dritten/vierten Lebensjahr gibt es heute noch keine Diagnosemethode, die mit Sicherheit die Taubheit des Kindes feststellen kann“, so Christiane Hartmann-Börner: „Medizinische Erkenntnisse besagen, daß sich die Hörbahnen erst im Kleinkindalter richtig entwickeln. Also müssen diese durch Hörreize richtig angesprochen werden“. Deshalb habe nur die Lautsprache, nicht aber die Gebärdensprache in der Frühförderung etwas zu suchen. Denn bei gleichzeitigem Gebrauch von DGS und Lautsprache entscheide sich das hörbehinderte Kind automatisch für das bequemere Kommunikationsmittel und vernachlässige das andere, für seine Integration in die hörende Welt aber wichtigere.

Ähnliches gilt nach Meinung von Christiane Hartmann-Börner für den Schulunterricht. Auch dort soll die deutsche Lautsprache Vorrang haben und nicht von der bequemeren DGS überlagert werden, denn „Gehörlose halten sich nun mal nicht überwiegend in der Gehörlosengemeinschaft auf, sondern unter Hörenden“.

Für Christiane Hartmann-Börner kommt der Gebärdensprachen-Ansatz im Grunde zu spät. Die Zahl der Gehörlosen nehme ab, dank medizinischer Fortschritte in der Früherkennung von Hörbehinderungen und der immensen Verbesserung der Hörgerätetechnik. Geradezu überwältigend seien darüberhinaus die Erfolge des „Cochlea-Implants“, eine Innenohrprothese, die mit Hilfe eines Mikroprozessors sprachliche Signale in elektrische Impulse umwandelt und so hörbar macht.

„Es wird immer Kinder geben, denen die Technik nicht hilft“

Der Gebärdensprachen-Streit also nur ein verspätetes Gefecht um die Emanzipation einer immer kleiner werdenden gesellschaftlichen Minderheit? „Nein“, meinen ganz entschieden Verena Thiel-Holtz und Susanna Tollgreef, die beiden Lehrerinnen der Klassen eins und zwei der Samuel-Heinicke-Schule, in denen der DGS-Versuch jetzt gestartet wurde. „Ich will die Erfolge der hörgerichteten Erziehung nicht in Abrede stellen, doch gesicherte Daten liegen noch nicht vor. Und es wird immer Kinder geben, bei denen die Technik nicht helfen kann“, so Susanna Tollgreef. „Deshalb ist es auch unmöglich, die Gebärde zu diesem Zeitpunkt auszugrenzen,“ pflichtet Kollegin Verena Thiel-Holtz bei: „Die Kinder, die zu mir kommen, vernachlässigen die Lautsprache nicht zugunsten der Gebärdensprache. Im Gegenteil, sie wollen sprechen lernen, um mit der hörenden Umwelt zurechtzukommen“.

Die Erfahrung mit dem Einsatz von DGS in den zwei vergangenen Monaten empfinden beide Lehrerinnen als positiv. „Die Kinder schalten nicht so schnell ab, weil es nicht so anstrengend für sie ist. Ich kann jetzt viel besser Inhalte vermitteln und die Kommunikation ist nicht mehr nur lehrerzentriert, sondern die Kinder unterhalten sich auch untereinander mittels DGS“, so Susanna Tollgreef.

Die beiden Lehrerinnen leiden allerdings darunter, daß aufgrund der Streitigkeiten der über sechs Jahre laufende Schulversuch erheblich abgespeckt wurde. Der gleichzeitige Unterricht in DGS und Lautsprache ist auf wenige Stunden reduziert. Da beide Päd-agoginnen die DGS nicht beherrschen, sollten zwei gehörlose LehrerassistentInnen eingestellt werden, die diese sprechen können. Zur Zeit arbeitet allerdings nur eine Kraft in beiden Klassen. „Da es noch keine Erfahrungen mit DGS im Unterricht gibt, müssen wir uns alle Materialien erarbeiten. Das ist anstrengend und kostet enorm viel Zeit. Kurz gesagt, wir alle arbeiten uns halbtot“, so Verena Thiel-Holtz.