Ein Herrscher - ganz auf sich und seine Kunst bezogen

■ Zerschmetternde Realwelt: Heinrich George zum 100. Geburtstag - ein Schauspieler, der sowohl dem Weimarer Theater als auch dem Nazifilm gewachsen war

Ein Junimorgen im Jahr 1931. Vor einer Bretterwand – irgendwo auf dem Berliner Alexanderplatz zwischen dem Kaufhaus Tietz und dem Lehrervereinshaus – werden Filmkameras aufgebaut und große, mit Silberpapier beklebte Platten nach dem Sonnenlicht ausgerichtet. Ein Sechszylinder fährt vor, aus dem ein dicker Herr mit entsteigt, der sich in Positur wirft. Noch geschieht nichts. Dann, endlich, reißt die Wolkendecke auf, die Sonne ist da, die Kameras surren. Heinrich George ist Franz Biberkopf, hat seinen Auftritt als fliegender Krawattenverkäufer.

Der Alexanderplatz als Filmkulisse, Dreharbeiten zur Verfilmung von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“. Als Franz Biberkopf entfaltet George alle Facetten seiner Schauspielkunst – als sei es ein Stück eigenes Leben: ungestüme Wucht und gestauchte Masse, prahlerische Maskulinität und unsichere Zärtlichkeit. In diesem Film kulminieren auf eindringliche Weise die darstellerischen Möglichkeiten des Schauspielers George – und versteckt die politischen Implikationen seiner Persönlichkeit, einer nahezu identifikatorischen Einheit von gelebter und gespielter Physis und Psyche.

Georges Karriere beginnt in der Weimarer Republik. Er verschreibt sich dem Expressionismus, spielt geschundene Helden in Stücken von Ernst Toller und Bertolt Brecht, und er gibt den Figuren Ernst Barlachs intensive Gestalt. Er spielt mit Alexander Granach und Elisabeth Bergner, mit allen großen Bühnenkünstlern seiner Zeit. Bei Erwin Piscator tritt er an der Volksbühne auf, mit Jürgen Fehling verbindet ihn eine kongeniale Partnerschaft. Seit Ende der zwanziger Jahre inszeniert er auch. Er unterstützt die Arbeit der Volksbühnenbewegung und des Volksfilmverbandes. Er filmt unter der Regie von Fritz Lang, Wilhelm Dieterle, Richard Oswald und E. A. Dupont. Er ist von ungeheurer Produktivität.

1933 arrangiert sich Heinrich George mit den nationalsozialistischen Machthabern. Der NSDAP tritt er nicht bei und wird damit auch nicht Mitglied in einer der nationalsozialistischen Betriebsorganisationen. Er wird Parteigänger ohne Parteibuch, ein Mitläufer, einer, der sich dienstbar macht oder – auch sich in Dienst nehmen läßt. Er kann – öffentlich und wohl auch privat – beschützend sein und auch voll distanzloser autoritärer Macht.

Die Intendanz des Schiller Theaters wird ihm 1938 übertragen. Er ist ein Star. Auch im Ausland schenkt man ihm Beachtung. Den Film nutzt er, um seine Popularität zu erweitern. Ein schauspielerischer Tycoon, der titanenhafte Gestalten verkörpert, idealische Nationalhelden und – mit selbstvergessener Naivität – auch nationalistische Idealisten. Sein Rollen- und Selbstbild wird ihm zur propagandistischen Falle. Kunst und Politik erreichen eine gefährliche Identität. Ein deutsches Schauspielerleben, eine Lebenskarriere, die ein einziges Zentrum kennt: das Schau-Spielen.

Der Schriftsteller Arnolt Bronnen erinnert sich: „Vor mir auf der Bühne stand ein Koloß, dabei elastisch, jung, vital, torkelnd wie ein vollgelaufener Seemann, mit wässrigen, hellblauen Augen, aus seiner heiseren Stimme zischte der Dampf eines überhitzten Kessels. Bald Wasserleiche, bald Haifisch, schwamm er auf der Rolle, die er spielen sollte.“

Georges Auftritte sind grandiose Solonummern, ins Zentrum, fast an die Rampe oder ins Auge der Kamera gespielt. Seine Rollen gehören ins Fach der „schweren Männer“ – Paul Wegener, Emil Jannings und Eugen Klöpfer heißen die schauspielerischen Konkurrenten. George betont das Maskuline, treibt das Vitale ins maßlos Vitalistische. Er ist ein Schauspieler der Intuition, der emotionalen Geste, einer, der – mit Kalkül – aus dem Bauch spielt.

Das Technische des Spielens, die pointierte Genauigkeit, ist ihm weniger als der kraftvolle Effekt und gefühlsbetonte Bewegung. George ist ein Herzspieler. Sein massives Selbstbewußtsein ebnet ein, aber ein kindhafter Unterton verrät die emotionale Achillesferse – und die Weinerlichkeit –, die hinter der kostümierten Masse, hinter dem lebenswütigen Drall des ausgestellten Spiels steckt. Dieses Innehalten offenbart die schauspielerischen Abgründe, in die George sich und seine Figuren treibt – als finde der Schauspieler zu sich, zur eigentlichen Rolle, die er rauschhaft überspielen will. Berichtet wird, George habe gerne mit nacktem Oberkörper gespielt, sich selbst entblößend.

1928 verkörpert er in Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“ im Berliner Lessingtheater die Rolle des Arthur Streckmann, den Emil Jannings 1919 im Film als fläzend- neidvollen Geck gespielt hatte. Georges forciertes Spiel ist – wie er selbst sagt – eine Balance zwischen „Technik und Rausch“, „kontrollierte Trance“, schwer und breit und – brüchig. Seine Körperlichkeit, die er schiebt und stemmt, ist gestraffte Kraft, lastend und brütend und nur scheinbar gelähmt. Ein überraschender Wechsel kann den Blick freigeben auf versteckte Zerbrechlichkeit, einen verlorenen, gutmütig-kauzigen Ton: ein kindisches Necken, ein schüchternes Streicheln, ein selbstmitleidiges Weinen und Greinen.

Seine Figuren scheinen keinen gesellschaftlichen Raum zu kennen, keine gesellschaftliche Wirklichkeit. Er schafft ihnen eine imaginäre Welt, weit gefährlicher als die Realität, weil sie im Unpolitischen wendig das Politische konserviert.

Im Film hat George seine eigentlich politischen Rollen gespielt, weniger aus bewußtem Engagement – für linke Ziele zunächst und dann für nationalsozialistische –, sondern eher aus spontaner, vielleicht opportuner Entscheidung, einer Neigung oder einem Einverständnis folgend; im Großen einer uneingestandenen Lebensstrategie des Einklangs.

1930 übernimmt er die Rolle des Émile Zola in Richard Oswalds demokratisch engagiertem Film „Dreyfus“. Fritz Kortner in der Titelrolle, Albert Bassermann, Oskar Homolka, Erwin Kaiser, Paul Bildt und Grete Mosheim sind seine Partner – ein Schauspielerfilm, episch breit. Erzählt wird die Chronik des Justizskandals um den Hauptmann Alfred Dreyfus, der 1894 durch eine antisemitische Verschwörung im französischen Kriegsministerium wegen Landesverrats verurteilt wird. George rekapituliert die Rolle, er hatte sie bereits auf dem Theater in Hans Rehfischs Schauspiel verkörpert. Mit Leidenschaft spielt er den politischen Literaten. Einen Schreibtischmenschen, der sich aufmacht, der seine Enthaltung aufgibt, die Stimme erhebt. Die „Rede an die Jugend“ hält er pochend und punktiert, eine angestrengte, nachdrückliche Akzentuierung erreichend.

Ähnlich angelegt ist seine Rolle als Jean Jaurès in Oswalds Geschichtspanorama „1914. Die letzten Tage vor dem Weltbrand“, das zunächst auf Intervention des Auswärtigen Amtes verboten wird. Das erste Opfer des Krieges, das meint der Film im Subtext, ist ein Pazifist. Man hat Jaurès' Haltung in der Öffentlichkeit mit Georges eigener identifiziert. 1945 wird er als Nettelbeck im Durchhaltefilm „Kolberg“ das demokratische En

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gagement denunzieren, das er als Zola oder als Jean Jaurès in „1914“ formuliert.

Die Rolle des Franz Biberkopf in Phil Jutzis Verfilmung des Romans von Alfred Döblin ist wie eine Summe der filmischen Rollen Heinrich Georges; und sie markiert auch einen Wendepunkt. Die Rolle kommt dem Typus Georges entgegen; sie fordert triebhaft emotionales Spielen wie geschlagene Unterlegenheit. Biberkopf ist sich fremd geworden; er ringt um ein anständiges Leben, steht zwischen Schuldlosigkeit und Verantwortung. Eine parabelhafte Gestalt. Döblin hatte George in verschiedenen Rollen auf der Bühne gesehen. Er hatte über den Schauspieler geschrieben, ihn einmal einen „gepanzerten Stier“ genannt, „kalt, allzu kalt“ und in ihm das Charakteristikum „zerschmetternder Realwelt“ ausgemacht.

Die Anfangssequenz von „Berlin Alexanderplatz“ gibt George Gelegenheit, die gesamte Figur des Biberkopf zu umreißen. Aus der Strafanstalt Tegel entlassen, macht sich Biberkpof auf den Weg in die Stadt. Er wartet auf die Tram, die ihn in die City bringen soll, drückt sich unsicher hinter einem Gebüsch herum. Wie ein Fremder betritt er den Plafond der Bahn, ortet, nimmt Witterung auf, sucht Blicke. Draußen vor der Fahrerscheibe werden die Bilder des Großstadtverkehrs immer schneller, überlagern und drehen sich, bis Biberkopf den Schwindel nicht mehr ertragen kann. Bis die Eindrücke ihn schlagen und er wie ein angeschlagener Boxer aus dem Zug stürzt, sich in den Verkehr fallen läßt, fortgerissen wird, bis er Schutz findet in einem engen, dunklen Hausflur, wund, am Ende seiner berserkerhaften Kraft. Dieses Verschwinden Georges in filmischen Bildern ist fulminant und neu. Denn es korrodiert – folgerichtig – seinen Stil.

Die kritische Resonanz auf den Film selbst ist zurückhaltend. Herbert Ihering moniert die „dramaturgische Fehlanlage“, und Siegfried Kracauer konstatiert „Versagen“, analysiert einen falschen Umgang mit der Romanvorlage und fehlenden Mut zur Kolportage. Die Leistung Georges aber wird gewürdigt, wenn auch die meisten Kritiker die Gefahren seines Spielens hellsichtig erkennen. Herbert Ihering schreibt, daß George „alle Register vom naiven, dumpfen Michel bis zum rasenden Kraftlackel zieht, Simson vom Alexanderplatz“. Aber er zieht eben Register.

George dominiert diesen Film, ein Gegenspieler fehlt. Selbst Bernhard Minetti, der Führer der Gangsterbande, kann mit seiner kalten und glatten Gefährlichkeit das raumgreifende Spiel Georges nicht konterkarieren. George ist der Star, alles ist auf ihn bezogen. Kracauer kritisiert: „Er ist nicht der Träger der Rolle, er paßt die Rolle sich an. Nicht George ist Biberkopf; der nimmt die Züge Georges an.“

Das Theatralische bleibt auch für den Filmschauspieler eine Grundbedingung seiner Rollenauffassung. Er bevorzugt die szenische Einstellung. Spielen in einem Stück. George braucht die szenische Entwicklung. In Fritz Langs „Metropolis“ setzt er gegen den schemenhaften Vamp Brigitte Helms eine nahezu rohe, atavistische Männlichkeit als Arbeiterführer Groth, mehr Komplize und Profiteur denn Gegner des Kapitals. Auch hier ist er der heimliche Star, sein zögerlich gegebener Handschlag besiegelt die Versöhnung von „Herz und Kapital“.

Mit der Rolle des Vaters in „Hitlerjunge Quex“, einem der ersten Filme, die die Machtübernahme der Nazis offen feiern, arrangiert sich George mit dem neuen Regime. Er paßt sich den neuen Verhältnissen an, behält seinen Starstatus, nutzt ihn für sich und für andere; der Bewunderung der neuen Machthaber kann er sicher sein. Offenen Widerstand gegen das NS-Regime formuliert er nicht. Er läßt sich vereinnahmen und plazieren. Er will weiterspielen – ganz auf sich und seine Kunst bezogen. Die Politik glaubt er sich nutzbar machen zu können; und ist doch längst eine Figur im politischen Kalkül der Nazi-Machthaber. Wie im Spiel fehlt George auch auf der politischen Bühne Abstand und kritische Distanz.

Er übernimmt Rollen in propagandistischen Durchhaltefilmen. Er ist nicht mehr nur die bestimmende Vaterfigur, längst ist er ein „Herrscher“. Aber einer, der gegenüber den wirklichen Machthabern Ergebenheit zeigt. In dem perfiden antisemitischen „Jud Süß“ spielt er den Herzog von Würtemberg, den er ohne politisches Maß zur „populären Gestalt“ macht. Er mobilisiert zum Durchhalten in „Die Degenhardts“ und in „Kolberg“. Als Nettelbeck stapft er – wie Fridericus einen Arm in die Hüfte gewinkelt, den anderen auf einen Stock gestützt – an der Frontlinie entlang und überwacht die Schanzarbeiten. Das Grimmige maskiert jeden fatalistischen Gedanken: das letzte Aufgebot im Kostüm. George ist der „Volksheld“. Diese angenommene Identität wird er nicht mehr los. Jetzt kniet der Koloß vor Gneisenau – im Film dargestellt von Horst Caspar. Ein letzter Handschlag, kein Kompromiß.

Für seine Nähe zu den Nazi- Machthabern hat George büßen müssen. Er wurde von den Sowjets verhaftet und im Durchgangslager Sachsenhausen interniert, wo er am 26. September 1946 starb.

Andere „Arrangeure“ haben sich nach Kriegsende erneut arrangiert. George, dessen Spiellust selbst im Lager ungebrochen blieb, hat auch nach dem Krieg noch viele Fürsprecher gefunden. Er war ein Volksschauspieler, der sich zum „Volkshelden“ hat stilisieren lassen. Sein letzter, nicht mehr realisierter Film unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner hätte „Das Leben geht weiter“ heißen sollen.

Heute abend um 20 Uhr findet in der Akademie der Künste eine Veranstaltung mit zwei Vorträgen über Heinrich George statt. Anschließend wird „Schleppzug M 17“ (1932) gezeigt.

Dieser Text ist die Grundlage eines Hörfunkbeitrags von Wolfgang Jacobsen für den „Kulturtermin“, SFB 3.