Die Manneslust an Unterschieden

Reisen von den Nomaden bis zur touristischen Industriegesellschaft. Wo sich heute gepflegte Langeweile breitmacht, lockte einst das Ungewisse. Ein Buch über die innere Reisesensation  ■ Von Edith Kresta

„Was den Wert des Reisens ausmacht, ist die Angst. Denn in einem gewissen Augenblick, so fern von unserer Heimat, von unserer Sprache (...) überfällt uns eine unbestimmte Angst, und wir empfinden unwillkürlich das Verlangen, in den Schutz unserer alten Gewohnheiten zurückzukehren. Das ist das augenfälligste Ergebnis des Reisens. In diesem Moment fiebern wir und sind zugleich durchlässig. Der geringste Stoß erschüttert uns bis auf den Grund unseres Wesens. (...) Deshalb darf man nicht sagen, man reise zu seinem Vergnügen. Es gibt kein Vergnügen des Reisens. Ich möchte eher eine Askese darin sehen. Man reist um der Bildung willen, wenn wir unter Bildung die Betätigung des geheimsten unserer Sinne verstehen, nämlich des Sinns für das Ewige. (...) Das Vergnügen lenkt uns von uns selbst ab. (...) Das Reisen, das gleichsam eine höhere und ernstere Wissenschaft ist, führt uns zu uns zurück.“Albert Camus, 1972

Dieser hehre Anspruch der Selbsterkenntnis ist im heutigen industriellen Tourismus ein frommer Wunsch. Die Einsamkeit des Reisenden ist der rundumversorgten Pauschalreise, dem Lärm der Animation gewichen. Reisen ähnelt inzwischen dem Wettlauf des Hasens mit dem Igel: Das standardisierte Reiseerlebnis erwartet Sie schon, selbst wenn Ihre Reise ans hinterste Ende der Welt führen sollte.

Wie „die Erfahrung der Ferne – von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage“ in den jeweiligen Epochen angenommen wurde und wie sie sich veränderte, untersucht Eric J. Leed anhand von Reiseberichten, Erzählungen und Mythen. Er zieht dabei Anthropologen, Ethnologen, Psychologen und Historiker zu Rate. Herausgekommen ist eine intelligente, hintergründige Auseinandersetzung mit dem Reisen, die die Lust am Objekt spüren läßt. Ob Gilgamesch und Odyssee, Ritter und Pilger, Entdecker und Wissenschaftler, Exilanten und Vertriebene – Leed will die inneren Beweggründe der freiwilligen oder notwendigen Reise nachvollziehen.

„Auf Reisen wird man zum Komparatisten und Relativisten“, schreibt Leed. Die Erkenntnis, daß alle patria ihren Wert haben, nehme der eigenen sozialen Realität ihre Absolutheit. Die Reise erschüttert so die eigene Identität und birgt die Chance, sich neu zu erfahren. Aber auch die Gefahr zunehmender Abgrenzung bis hin zum Rassismus: aus Angst, sich selbst in Frage zu stellen, zu relativieren. Leed nennt dies „die Maske der Rasse“. Erst die Erfahrung des Fremden, die Spiegelung darin, führe zur bewußten Selbstwahrnehmung und Selbstabgrenzung. Die Begegnung mit dem Andersartigen ist in ihrem Kern eine Begegnung mit sich selbst. Sie zeige eigene Grenzen und Begrenztheit.

Diese kulturelle Grenzüberschreitung durch das Reisen ist für Leed die Grundlage wissenschaftlicher Objektivität. Denn Gesellschaften, die nie mit anderen in Berührung kamen, haben keine Selbstdefinition. Der beim Aufbruch erfahrene Verlust, die Entfremdung, setze sich während einer Reise fort: Die Welt wird zunehmend verdinglicht. „Die Erfahrung der Reise hat die moderne Definition von wissenschaftlicher Objektivität in entscheidender Weise mitgeprägt“, konstatiert Leed, „und ist untrennbar mit der Entwicklung des modernen Bewußtseins verbunden, (...) das von einer radikalen Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht.“

Leed zeigt, daß dieses Heraustreten aus dem eigenen gesellschaftlichen Rahmen reine Männersache war. So wie Männer eben entscheidend die Inhalte des moderenen Bewußtseins bestimmen. Die Reise ist männlich. Erst mit der Entwicklung der Pauschalreise wagten sich auch Frauen in größerer Zahl jenseits ihrer heimatlichen Gefilde. Leed zitiert die rührenden Dankesbriefe englischer Ladies an den Erfinder der Pauschalreise Thomas Cook, der ihnen nun endlich die Welt zu Füßen legte und geborgen zugänglich machte. Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, nach Berühmtheit, Anerkennung, Selbstverwirklichung und Selbstsicherheit streben, währenddessen schürt die Frau den heimischen Herd. Die traditionellen Geschlechterrollen finden sich gerade beim Reisen wieder.

Von den heroischen Abenteuerfahrten bis zu den mittelalterlichen Ritterzügen sei das Wegfahren, so Leed, Ausdruck männlicher, narzistischer Macht und Selbstdarstellung. Während die Frau für die Reproduktion der Spezies zuständig ist, erringt der Mann unsterblichen Ruhm. Diese erbarmungslose Ungerechtigkeit analysiert Leed beschwichtigend als Folge biologischer Ungleichheit. Der Mann kompensiere im Reisen, so mutmaßt der Autor mit den Argumenten der Psychologin Mary O'Brian, seine nur vorübergehende biologische Notwendigkeit im Zeugungsakt. „Tatsache ist, daß Männer deswegen Kontinuitätsprinzipien aufstellen, weil ihnen aufgrund der Entfremdung des männlichen Samens die genetische Kontinuität verwehrt ist.“ (O'Brian)

Welch geglückte Wendung zum bedauernswert herumirrenden Gatten und entfremdeten Samen. So wird den repressiven Verhältnissen nachträglich ein artenspezifischer Sinn verliehen, um die dahinter stehenden Herrschaftsansprüche nicht weiter zu bemühen. Eine äußerst schwache Stelle in dieser ansonst so intelligenten Analyse. Aber Leed interessiert sich mehr für das menschlich Allgemeine der Reiseerfahrung, als für das besondere Weibliche.

Wie auch immer. Erst in jüngster Zeit ist auch für Frauen das selbständige Erkunden der Welt – leider sind die Pfade nun durch vorauseilende Männer fast völlig ausgetrampelt – gesellschaftsfähig.

Aufbruch, Passage und Ankunft, diese Strukturen der Reise mußten die Frauen bislang zumeist als passive Mitspielerinnen erleben. Die dahinterstehenden ambivalenten „menschlichen Wünsche nach Bewegung wie nach Ruhe, nach Freiheit wie nach Abgeschlossenheit, nach Unbestimmtheit wie nach Eindeutigkeit“ (Leed) waren den Frauen in ihren aggressiveren, nach außen gerichteten Anteilen verwehrt.

Derweil zogen traurige Ritter, heroische Gatten und einsame Forscher durch die Lande und durften von der Kraft des Reisens zehren. „Die Kraft, die dem Reisen innewohnt, ist korrosiv, entblößend, vernichtend – es ist die Erfahrung eines ständigen Verlustes“, weiß Leed. Und wie die Frauen jahrhundertelang vor diesem „progressiven Verlust“ geschützt wurden, so schützt heute der moderne Tourismus seine Protagonisten davor: Statt Kraft durch den Gegensatz setzt sich domestizierte, vertraute Einheitlichkeit durch. „Die Freude an Unterschieden“ benennt Leed als das wichtigste Motiv des Reisens. Deshalb, Frau, wandere, bevor der männliche Zugriff und Tritt die fruchtbaren Unterschiede weltweit gänzlich eingeebnet hat.

Eric J. Leed: „Die Erfahrung der Ferne – Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage“. Campus, Frankfurt 1993, 68 DM