„Revolución si – olimpiada no“

Mexiko, vor 25 Jahren: Der olympische Friede kam aus Gewehrläufen / Die Organisatoren gingen über Leichen: 60 bis 300 fielen dem Massaker am „Platz der drei Kulturen“ zum Opfer  ■ Von Michael Bolten

Am 12. Oktober 1968 fand die Eröffnungsfeier der 19. Olympischen Spiele statt, die zum ersten und bisher einzigen Male in einem mittelamerikanischen Land ausgetragen wurden. Unter den extremen klimatischen Bedingungen von Mexiko City konnten Olympiasieger bejubelt werden, die auch heute noch einen hohen Stellenwert haben: Bob Beamon gewann den Weitsprung mit dem Riesensatz von 8,90 Meter, Dick Fosbury siegte im Hochsprung mit der von ihm entwickelten Flop- Technik. Erfolgreichste Teilnehmerin war Vera Caslavska, die vier Goldmedaillen im Turnen errang, und der Erfurter Schwimmer Roland Matthes schlug zweimal als Erster an: Namen, die mehr als Schall und Rauch geblieben sind.

Bei dieser Eröffnungsfeier der olympischen „Oase in einer überhitzten Welt“, so der damalige IOC-Präsident Avery Brundage, ließen die mexikanischen Olympiaorganisatoren Tausende von „Friedenstauben“ in den versmogten Himmel aufsteigen, wohlwissend, daß man für diesen „Frieden“ erst einmal über Leichen gehen mußte.

Bereits in den Sommermonaten kam es in Mexiko City immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei. Am 29. Juli besetzten Granaderos – die kasernierte Bereitschaftspolizei Mexikos – eine Oberschule. Obwohl der mexikanische Präsident Diaz Ordaz noch kurz zuvor das „unauflösliche Prinzip der Autonomie“ der Hochschule bekräftigte, wurden im Laufe des Sommers mehrere Hochschulen der Stadt von Polizei- und Militäreinheiten okkupiert. Die Gefängnisse und Krankenhäuser füllten sich, man beklagte die ersten Toten unter der Studentenschaft.

„Die Armen in Mexiko zählen zu den Ärmsten der Welt, auf dem Land verdient man rund fünf Mark die Woche, und wenn gemeutert wird, schießt die Polizei aus Maschinenpistolen, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Auch aus diesem Grund protestierten die Studenten. Und dann, weil sie nicht wollten, daß die Soldaten ihre Universitäten besetzten, in ihren Hörsälen biwakierten und dabei ihre Instrumente zerschlugen. Und dann, weil sie in Mexiko keine Olympiade haben wollten. Sie sagten, die verdammte Olympiade kostet Milliarden, man sollte sich schämen, Milliarden auszugeben, wenn dabei das Volk verhungert.“*

Richteten sich die Proteste der Studenten zunächst vorrangig gegen die staatliche Repression und die willkürliche Gewaltanwendung der Granaderos sowie gegen die anhaltenden sozialen Mißstände, so schlug der Protest alsbald gegen die Olympischen Spiele um. Die Fahne mit den fünf Ringen zierten fortan Sprüche wie: „1968 – das Jahr der Repression“. In Sprechchören forderten die Protestierenden: „Revolución si – olimpiada no“. Sie revoltierten gegen die hohen olympiabedingten Kosten – über 600 Millionen Mark waren schon vor der Eröffnungsfeier ausgegeben worden – bei gleichzeitig anhaltender Armut großer Teile der Bevölkerung.

Um die Durchführung der Olympischen Spiele zu gewährleisten, drohte der mexikanische Verteidigungsminister, General Marcelino Garcia, damit, „die Revolte um jeden Preis niederzuschlagen“. Die endgültige Höhe des Preises erfuhren die Studierenden zehn Tage vor der Eröffnungsfeier.

„Mir fiel auf, daß diese Männer mit Revolver alle ein weißes Hemd trugen, und an der linken Hand hatten sie einen weißen Handschuh oder ein weißes Taschentuch. Es war das Erkennungszeichen des Olympia-Bataillons, wie ich später erfuhr, der härtesten Polizei-Einheit, und an dem Tag hatte das Olympia-Bataillon Zivil angezogen, um besser morden zu können, und die erste, die sie ermordeten, war Maribilla, als sie fliehen wollte.“

Nachdem Polzeikräfte auch noch das Nationale Polytechnische Institut besetzten, riefen die Studenten zu einer friedlichen Demonstration zum „Platz der drei Kulturen“ auf. Gut 10.000 Menschen versammelten sich dort, um wenige Tage vor den Olympischen Spielen unter den Augen der vielen bereits angereisten Sportjournalisten ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen.

Bereits wenige Minuten nach Beginn der Veranstaltung riegelten Einheiten der Armee den Platz vollständig ab. Einer der anwesenden Studentenführer versuchte von der Terrasse eines der Gebäude die Menge zu beruhigen: „Bleibt ruhig. Beweist ihnen, daß unsere Kundgebung eine friedliche Kundgebung sein will. Bleibt ruhig.“ Es gelang ihm nur noch, auf den geplanten Hungerstreik vor dem olympischen Schwimmstadion hinzuweisen, bevor er vom Lärm eines immer tiefer gehenden Militärhubschraubers übertönt wurde. Zwei Leuchtkugeln, abgeschossen von der Hubschrauberbesatzung, waren das Startsignal für das nun folgende Blutbad.

Von allen Seiten des Platzes aus brachten die Soldaten ihre Maschinengewehre in Anschlag und schossen wahllos in die Menge: „ein konzentriertes, ununterbrochenes, organisiertes Feuer“. So beschrieb die italienische Journalistin Oriana Fallaci das Geschehen. Die Reporterin, die vorher als Berichterstatterin im Vietnamkrieg tätig und unverletzt geblieben war, trug vom „Platz der drei Kulturen“ drei Schußwunden davon.

„Es kam der Herbst mit seinen Olympischen Spielen in Mexiko City, und ich geriet in dieses Massaker hinein, das schlimmer war als alles, was ich im Krieg erlebt hatte. Denn im Krieg schießen Bewaffnete auf andere Bewaffnete, wenn du's dir recht überlegst, steckt im Krieg doch ein Untergrund von Fairneß, du bringst mich um, ich bringe dich um. Aber bei einem Massaker wirst nur du umgebracht, und damit hat sich's. Und an dem Abend waren es über dreihundert, einige behaupten sogar fünfhundert, die niedergemetzelt wurden. Jugendliche, schwangere Frauen, Kinder.“

Trotz der vielen in Mexiko bereits anwesenden ausländischen Journalisten gelang es, das Vorgehen der Armee weitgehend unter den Tisch zu kehren. Die Zahl der Toten schwankte – je nach Sichtweise – zwischen 60 und 300. Kein Zweifel hingegen gab es darüber, daß Hunderte verletzt und Tausende verhaftet wurden. Klaus Ullrich Huhn, der 1968 für das Neue Deutschland aus Mexiko berichtete, erklärte rückblickend, daß es in den lokalen Medien keinerlei Bilder zu diesen Vorfällen gab und seitens der Mexikaner eine Dokumentation verhindert wurde. Das Ziel der mexikanischen Verantwortlichen war schließlich erreicht: der olympische Friede, der diesmal aus Gewehrläufen kam, war gewährleistet. Der Preis für den Protest der StudentInnen war so hoch getrieben worden, daß während der Olympischen Spiele keinerlei Demonstrationen stattfanden. Die IOC-Mitglieder, die mexikanischen Organisatoren, die SportlerInnen sowie die Sportjournaille hatten ihr Fest – auch wenn es erst freigeschossen werden mußte.

(*Alle Zitate aus: Oriana Fallaci, „Nichts und Amen“, Köln 1991)