Strafe für Stärke

Muß „Das Madonna Phänomen“ jetzt in „Das Madonna Phantom“ umbenannt werden? Ist CSU-„Anstandswauwau“ Norbert „Volksmund“ Geis die Ausnahme oder die Regel? Eine Kritik der „Pornodonna“-Kritik  ■ Von Jörg Heiser

Kaum einem fällt es schwer, die Musik der „frühen“ und die Selbstinszenierung der „mittleren“ Madonna zu loben, aber spätestens mit dem 92er Album „Erotica“ und dem Bildband „Sex“ ist man sich einig, daß da nur noch eine abgehalfterte Diva der Basic Instinct-Kultur hinterherhechelt. Letzteres wird gerne beschrieben als der Versuch, bei einem von „Reizüberflutung“ übermüdeten Publikum mit allen Mitteln noch Neugierde zu wecken.

Diesem kulturpessimistischen Topos mag ein Marktgesetz entsprechen, dem Madonna tatsächlich zum Teil nachgibt, grundsätzlich aber steckt darin die protestantische Angst davor, den Überblick zu verlieren. Das richtet sich auch gegen Frauen, die sich nicht auf das „Frausein“ reduzieren lassen wollen – eine moderne Form von Misogynie.

Ein Beispiel: Als Anfang letzter Woche der Wirbel um das Frankfurter Madonna-Konzert begann, lief die Bild Zeitung, ganz Ideologie des „veröffentlichten Volksmundes“, zu Höchstform auf: In der Ausgabe vom 28.September titulierte sie den rechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Norbert Geis, der ein Auftrittsverbot für Madonna (wegen „Jugendgefährdung“) gefordert hatte, als „CSU-Anstandswauwau“; Geis stehe wohl mehr auf Blasmusik, Madonna sei ja von jeher für ihr Spiel mit sexuellen Posen bekannt – „ihre Fans wissen das“. Diese Wahrheit – daß Madonna-Fans wissen, was gespielt wird – war der Bild Zeitung noch einmal aufgefallen: Während des Londoner Auftritts im ausverkauften Wembley-Stadion (150.000 Besucher an zwei Abenden) habe sie so laut ins Mikrophon gestöhnt, „daß die Fenster der Wohnhäuser vibriert haben... ,Schlimm‘, schrieben englische Zeitungen, ,Great‘, jubelten die englischen Fans.“ Great. Ein deutliches Votum für den Fan-Geschmack. Aber schon zwei Tage später folgte der rituelle Ausgleich für das geleistete Zugeständnis an all jene Bild-Leser, die an Popkultur und Madonna ein kraftspendends Genießen bindet: „Ihre Liveshow ist ein einziger Schock ... Sie trägt Lederstiefel, keucht, stöhnt, simuliert Gruppenorgien mit zwei Schwarzen ... Kritiker sagen: Das ist keine Show, nur noch Perversion. PS: Madonnas letzte Platte ,Erotica‘ ist ein Flop – sie muß wieder in die Schlagzeilen. Arme, nackte Pornodonna.“ Was zwei Tage vorher noch das „geheime“ Wissen der Fans war, ist jetzt der Schwanengesang der Sexindustrie, als sei Madonna der RTL-Samstagabend. Arm und nackt muß sie wieder sein.

Warum „arm“? Wie kommt Bild darauf? Ist das Mitleid? Stärkste und wichtigste Beobachtung Diedrich Diederichsens in seinem Beitrag zu dem 100-Seiten- Bändchen „Das Madonna Phänomen“ ist, daß es Madonna in ihrer Rezeption durch (männliche) Kritiker geht wie den meisten weiblichen Stars vor ihr: Macht und Selbstbewußtsein werden nur akzeptiert, wenn „im Mythos eine Bestrafung für die Stärke miteingebaut“ ist. Erst wenn Madonna ein Tina-Turner-mäßiges beutelndes Tief durchlebt hat, sie mindestens einmal arm und nackt und vom Erfolg verlassen war, sind die Kritiker wieder zufrieden. Da sie ihnen diesen Wunsch bisher nicht so richtig erfüllt hat, muß eine schwächer verkaufende Platte („Erotica“) gleich ein Flop genannt werden.

Diederichsen weist darauf hin, daß es Madonna immer wieder geschafft habe – etwa mit dem „Vogue“-Video und dem Film „In Bed with Madonna“ –, ihrer kreativen Ausgangsbasis, die sie Anfang der Achtziger in der schwarzen gay culture und Disco- und House-Musik hatte, treu zu bleiben. Daß sie das auch in ihrem „Sex“-Buch tut, scheint Diederichsen nicht zu glauben, auch wenn dort mehrmals mit Verweisen auf die lesbische und (schwarze) Schwulenkultur gespielt wird (wie übrigens auch in der in Frankfurt leider ausgefallenen „Girlie-Show“). Mit „In Bed With Madonna“ habe sie noch das Inszenierte des scheinbar enthüllten Privaten sichtbar werden lassen, in „Sex“ sei gerade das durch eine „zentralere Message“ entkräftet: die „Unterwerfung unter die Basic Instinct-Kultur und Masochismus-Propaganda“.

Was aber ist das Böse dieser Vermarktung von S/M-Kultur? Entscheidend ist, daß die Verbindung „Lesbe“ und „Sadomaso“ in „Basic Instinct“ und ähnlich angelegten Filmen, Büchern etc. nur vorgeführt wird, um am Ende – und das ist das „Böse“ – mit einem ideologischen Kniff gegen die Frauen gewendet zu werden: Lesben sind per se gefährliche, mordende Hexen und werden dafür von heldenhaften Männern bestraft (mindestens aber zum heterosexuellen Sex „bekehrt“).

Das ist in „Sex“ – und das übergeht Diederichsen mit seiner Kritik – nicht so. In Madonnas Buch sieht man gleich auf den ersten Seiten tätowierte Hardcore-Lesben, die Madonna fesseln und ihr ein Klinge an den Hals setzen, um dann anschließend mit ihr fröhlich auf dem Sofa zu plauschen; die also nicht die bösen Monster sind, die am Ende ein aufrechter Michael Douglas umbringen oder „bekehren“ wird.

Bei aller berechtigten Kritik an einer Mainstreamisierung des Devoten, die suggeriert, daß Frauen es „cool“ finden, gedemütigt zu werden, muß man zu differenzieren versuchen: zwischen Darstellungen, die den Eindruck erwecken wollen, daß Frauen für Dominanz am Ende zu bezahlen haben (bzw. von vornherein unterworfen gehören), und solchen, in denen Frauen zu eigenen Bedingungen und unter eigener Kontrolle sadomasochistische Begierden inszenieren.

Natürlich haben auch immer wieder Kritiker, ähnlich wie CSU- Wauwau Geis, Angst, daß Madonna die Kinder verdirbt. Jenen, vor allem den weiblichen, kann es ja auch nur schaden zu wissen, daß Pop von Selbstinszenierung handelt – und daß darin die Rolle der Hausfrau in der Regel nicht eingeschlossen ist. „Madonnas Erscheinungsbild mutiert so schnell wie ein HIV-Virus“ – dieser denunzierende Satz findet sich in Boris Penths und Natalia Wörners Text in „Das Madonna Phänomen“. Ärgerlich ist, wie selbst die gedankenlosesten, von mysogynen Kritikerressentiments durchsetzten Zitate pseudowissenschaftlich zur „Analyse“ eines „Phänomens“ herangezogen werden, als ginge es bei Madonna um eine Krankheit, die es zu beschreiben gilt. Da wird in ihr nur noch die „Sex-Göttin“ in einer „Video-Fabelwelt“ gesehen, „die mit den Niederungen der Realität nichts zu schaffen hat“, wenn es zum Beispiel darum geht, ihr Video zu dem Stück „Open your heart“ zu beschreiben.

In diesem sieht man Madonna als mit knappem Body bekleidete Tänzerin einer Peepshow. Sie wird von skurrilen, lächerlichen Männergestalten beäugt, läßt sich aber im Tanz nicht ablenken. Im Foyer der Peepshow übt ein Junge, dem der Eintritt verwehrt wurde, Madonnas Posen, die er von den Schaufensterbildern kennt. Damit unterscheidet er sich von den Peepshow-Gaffern – er überwindet den männlichen Blick, indem er auf die Seite des Objektes übergeht, das dieser Blick erst zum Objekt machte. Madonna steht plötzlich vor ihm, küßt ihn und hüpft ausgelassen mit dem Kleinen davon.

Penth und Wörner glauben nun ernsthaft, damit sei das „heiße Eisen“ „Kindesmißbrauch“ angefaßt – wenn man es denn zum „Kindesmißbrauch“ erklären wollte, daß Madonna in Kinderzimmern das Fertigwerden mit elterlicher Gewalt erleichtert hat. Denn darum geht es hier: Die Kinder verstehen, die alten Säcke hinter den Glasscheiben nicht.

Ein weiterer Topos der Madonna-Kritik ist die dürftige Erkenntnis, daß Madonna als Figur postmoderner Schein ist, in dem die Zeichen endgültig zum Sammelsurium des Warenkatalogs verkommen sind. Auch hier wieder: „Reizüberflutung“, die Angst vor dem Verlust der Kontrolle, auch die Angst des männlichen Kritikers davor, die klare Zuordnung der Frauenrolle in der Popkultur (und im „richtigen“ Leben) durcheinandergebracht zu bekommen.

Wenn es darum geht, Madonna zur armen, nackten Verliererin (zum Opfer der Postmoderne) oder zum machthungrigen, geldgierigen Eisklotz (zur skrupellosen Anwenderin der Postmoderne) zu stilisieren, ist jedes Mittel recht, sogar die Behauptung, Madonnas früher ja mal ganz nette Musik sei vollkommen zur Muzak geworden. Dabei sind ihre letzten drei Singles – „Deeper & Deeper“, „Bad Girl“ und „Rain“ – allesamt absolut tolle Popsongs. Aber die Fans wissen das.