Byron und das Chaos

■ „Da ist die Mathematik, ein wenig Dichtung und ein wenig Gartenarchitektur“: Deutschsprachige Erstaufführung von Tom Stoppards „Arkadien“ in Zürich

Bernard Nightingale ist Literaturwissenschaftler. Als solcher ist er der Auffassung, Lord Byron habe Anfang des 19. Jahrhunderts einen drittklassigen Dichter im Duell erschossen – und deswegen überstürzt England verlassen. In der Bibliothek eines ehedem aristokratischen Herrensitzes sucht er nach Belegen: Jede Briefzeile und jeder Vermerk am Rande einer Buchseite wird zum Beweisstück in seinem sich selbst bestätigenden System. Chaosforscher ist Herr Nightingale nicht, obwohl sein Vorgehen etwas gezielt Chaotisches hat. Um im Jargon der Chaostheoretiker zu sprechen: Es ist ein hochkomplexes System mit Tendenz zur Selbstorganisation, in dem schon ein kleiner Hauch genügt, und aus Ordnung wird Chaos, aus Chaos wieder Ordnung.

Auch wenn es sich nicht so anhört: Es geht tatsächlich noch um Tom Stoppards neuestes Stück, seine deutschsprachige Erstaufführung in Zürich. Der forschende Literaturwissenschaftler trifft auf die im selben Gewässer fischende Hannah Jarvis. Auch sie schreibt Bücher über verstorbene Schriftsteller, mutmaßt, stellt Theorien auf. Wenn beide aufeinandertreffen, läuft Tom Stoppard zu Hochform auf; dann stehen sich zwei Figuren mit scharf geschliffenen Sentenzen gegenüber, werden Pointen gesetzt wie selten im zeitgenössischen Theater. Die Profis sind unter sich und wissen, wie man sich und das aus dem Chaos geborene wissenschaftliche Essay verkauft.

Anne-Marie Kuster ist eine Hannah, die ihrer Lieblingsthese vom Einsiedler nachhängt, der im Park des Anwesens die Grundzüge der Entropie entwickelte, während sie gleichzeitig die Wachsamkeit eines Wachhundes ausstrahlt, jederzeit bereit, das Terrain zu verteidigen. Und Burghart Klaussner ist nicht nur ein geckenhafter Literaturwissenschaftler (wie Stoppard das will), sondern ein Spieler im Reich der unbegrenzten Interpretationen, der gegen positivistische Computerlinguisten zu Felde zieht: Leute, die nachweisen, D. H. Lawrence habe eine bestimmte Erzählung geschrieben, könnten mit ihren Methoden allerdings auch belegen, er habe das letzte Mitteilungsblatt des Kleintierzuchtvereins in Brighton geschrieben.

Während er das tut, weiß er allerdings nur zu gut, wovon er spricht: Auch er kann alles mögliche zurechtkonstruieren, nur eben charmanter. Wäre es dabei geblieben und hätte Stoppard lediglich die Geschichte von Hannah und Mister Nightingale inklusive der drei Geschwister Coverly erzählt, die das Landhaus jetzt bewohnen und jugendlich für die beiden Vollblutwissenschaftler schwärmen – das Ganze wäre ein etwa zweistündiger, gut konstruierter Bühnenliteraturkrimi geworden, bei dem die Chaostheorie (die der als Verhaltensbiologe dilettierende Valentine Coverly in einem langatmigen Monolog zu erklären versucht) in der Dramaturgie des Stückes selbst durchgespielt wird.

Stoppard allerdings wollte mehr und hat Szenen aus der Jetztzeit und dem England des beginnenden 19. Jahrhunderts gemischt. Was erforscht wird, erscheint auf der Bühne in Form von Septimus Hodge, einem Hauslehrer, und Ezra Chater, dem vermeintlich von Byron erschossenen Poeten. Byron selbst tritt nicht auf, es deutet sich aber auch so an, daß alles ganz anders war – so eben, wie Chaostheoretiker es erklären würden: Ein kleiner Hauch genügte, und Chater reiste nach Indien, ohne daß Lord Byron (der tatsächlich im Landhaus war und was mit Chaters Frau hatte) auch nur einen Finger krumm zu machen brauchte.

Stoppard, der seit seiner Shakespeare-Travestie „Rosenkranz und Güldenstern“ (1966) auch mit den Möglichkeiten historischer Figurenkonstellationen spielt und in „Travesties“ Joyce, den Dadaisten Tzara und Lenin aufeinandertreffen läßt, spielt in „Arkadien“ zudem mit Zeitebenen, einer Unmenge von Spiegelungen. In Peter Wood hat er einen treuen Gefolgsmann gefunden. Wood, der in den letzten Jahren fast alle Stoppard- Stücke zur Uraufführung brachte und jetzt auch in Zürich Regie führte, arbeitete nah am Autor – es war unvermeidlich, daß er zusammen mit Stoppard in die gesamteuropäische Romantik abstürzte. Das Landgut zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird bei ihm zum Hort des Manierismus und Hauslehrer Septimus zum gezierten Mann, der kein Wort ohne besondere Betonung spricht. Wood hatte offensichtlich Angst, die Zuschauer könnten die Zeitsprünge im gleichbleibenden Bühnenbild nicht mitbekommen, also künstelt Volker Ranisch den Septimus derart, daß wir auf keinen Fall mehr in der Jetztzeit sein können – in einer gelungenen Inszenierung allerdings auch nicht mehr. Da hilft auch Kathrin Thurm nicht, die als Frühgenie Thomasina und Septimus-Schülerin spielerisch die Anfänge der Chaostheorie zu Papier bringt, an erster Stelle aber mehr über die „fleischliche Umarmung“ erfahren möchte.

Zu Zeiten Byrons kam es in Mode, geometrisch angelegte Parks wieder wild herrichten zu lassen, was Stoppard zu einer weiteren Bebilderung der Chaostheorie nutzt. Die historische Hausherrin Lady Croom (auch Anne- Marie Dermon übt den Manierismus) beauftragt einen Landschaftsarchitekten, ihren Park in eine gestylte Wildnis zu überführen. Aber auch hier schlägt das Chaos zu, der Landschaftsarchitekt hat sein ×uvre nicht mehr im Griff. Bühnenbildner Carl Tom wiederholt diesen inhaltlichen Strang an der Hinterfront des Herrenzimmers, für die er eine „wilde“ Parklandschaft malen ließ, eine romantische Illusion, die je nach Lichteffekt durchsichtig wird. „Sicher, da ist die Mathematik, ein wenig Dichtung und ein wenig Gartenarchitektur, aber all das dient einer weitaus wichtigeren Sache, die sich nicht betiteln läßt“, wird Stoppard im Programmheft zitiert. Stück und Inszenierung allerdings sind anders geraten: Zuviel Mathematik, zuviel Gartenarchitektur, zuwenig Bühnendichtung. Jürgen Berger

Tom Stoppard: „Arkadien“. Regie: Peter Wood. Bühne und Kostüme: Carl Tom. Mit Burghart Klaussner, Anne-Marie Kuster, Kathrin Thurm, Volker Ranisch. Schauspielhaus Zürich. Weitere Aufführungen: 12., 14., 16., 18.10.