Metrofahren will gelernt sein

Kurse zur „zeitgenössischen europäischen Etikette“ stoßen in Rußland auf reges Interesse – trotz oder gerade wegen der Krise  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ein paar hundert Meter weiter wächst allminütlich die Spannung zwischen den bis an die Zähne bewaffneten Insassen des Weißen Hauses und den Sicherheitskräften außerhalb. Hier dagegen, in der schattigen Villa des Journalisten- Verbandes, an der Ecke zwischen Kalinin-Prospekt und Boulevardring, erörtern etwa hundert Moskauer BürgerInnen angeregt die Frage, ob ein junges Fräulein aufstehen soll, wenn es einen alten Herren begrüßt, und wohin man beim Bankett am besten seine Kirschkerne spuckt: Der Kurs „Die zeitgenössische europäische Etikette“ ist in vollem Gange. Wir zählen die ersten Oktobertage in Moskau, zu den Fenstern schaut eine unerwartet milde Herbstsonne herein, und ich frage mich unwillkürlich, ob es den hier Versammelten etwa zu gut geht. Wie sich herausstellt, ist das Gegenteil der Fall. Vor allem unglückliche Frauen und Mädchen gewinnen in den Kursen der Vera Iwanowna Muraschowa von neuem die Hoffnung, ihrem grauen Alltag, der sie mit Ellenbogen stößt, mit Inspiration und Intuition doch noch ein Schnippchen schlagen zu können. „Unsere Gesellschaft ist auf das Niveau des Höhlenzeitalters hinabgesunken, da suche ich einen Weg nach oben.“ Diesen Ausspruch einer Hörerin gibt mir Kursleiterin Vera Iwanowna Muraschowa selbst wieder. AusländerInnen dürften dazu neigen, sie unter der Kategorie „russisches Ballett“ einzuordnen: ein zartgeschminktes Porzellangesichtchen um die 60 unter federigem Pony, langer Samtrock, hochhackige, aber bequem wirkende Schuhe, ein himbeerfarbenes tailliertes Blüschen mit Chiffonschälchen Ton-in-Ton, und über alledem eine schwarze Pellerine aus Angora mit Marabu-Effekt. Wer kann sich da noch wundern, wenn Vera Iwanowna jetzt einen weiteren Unterrichtszyklus abhält: „Die Magie des Weiblichen“.

Nur räumliche Hindernisse beschränken die HörerInnen-Anzahl in Vera Iwanownas Kursen auf etwa zweieinhalbtausend Personen im Jahr. TV-Teams aus aller Welt reißen sich darum, in ihren Veranstaltungen drehen zu können, denn selten offenbaren die RussInnen ihre Seele so drollig wie in den Rollenspielen bei Frau Muraschowa. Hinter ihrem ungewöhnlichen Zulauf und Erfolg stehen außer ihrer kapriziösen Persönlichkeit auch für Land und Volk ungewohnte Methoden. Vera Iwanowna, die selbst als junges Mädchen „ein Jahr lang bitterlich“ weinte, weil ihre Brüder sie nicht Schauspielerin werden ließen, hat die Kunst des Rollenspiels im Unterricht für Rußland entdeckt. Ob ihre Kursgäste nun „Bankett“ spielen, „Metrofahren“ oder „Bekanntschaft schließen zwischen Mann und Frau“, fast immer sind die Resultate nicht nur lehrreich, sondern auch markerschütternd. Vera Iwanowna selbst spielt dabei Nebenrollen, wie die irre Alte, die in der Metro mit sich selbst redet.

Viele männliche Kursbesucher führt der Wunsch hierher, in ihrem Verhalten den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten im Lande gerecht zu werden. Aber auch Frauen wollen sich mit Erfolg bewerben können und den Feinheiten einer neuen Hierarchie anpassen, in der auch AusländerInnen mitarbeiten und nicht mehr alle GenossInnen grau sind. Da ist es gut, daß Vera Iwanowna die Etikette für ihren Unterricht bei Konsultations-Besuchen in England und den USA entstaubt hat. Natascha – ein braunäugiges Mädchen von etwa Mitte 20 bestätigt mir: „Ich arbeite in einem Pharmazeutischen Forschungsinstitut, an dem kürzlich eine internationale Konferenz abgehalten wurde. Zum Schluß gab's ein Bankett. Da habe ich wirklich genossen, wie selbstsicher ich mich dabei fühlte. In unseren Familien haben wir doch im allgemeinen nicht beigebracht bekommen, wie man sich gut benimmt“. Jetzt will sie mit der „Magie des Weiblichen“ weitermachen: „Ich habe mich einfach von der Lebensfreude in den Etikette- Kursen anstecken lassen und will noch nicht darauf verzichten“.

Olga, eine Medizinstudentin im zweiten Semester in Jeans, mit blondem Pferdeschwanz hat die gleiche Entscheidung getroffen: „Ich bin das erste Mal aus Neugierde hergekommen, und nun bin ich sehr zufrieden, weil mir die Kurse einen Blick von außen auf mich selbst gestatten und mich zwingen, mich mehr mit mir selbst zu beschäftigen. Selbstverständlich bin ich nicht mit allen Verhaltensweisen einverstanden, die uns hier beigebracht werden. Aber auch in Fällen, in denen ich mir meine eigene Meinung vorbehalte, kommt es mir hier zugute, daß ich andere Einstellungen zum menschlichen Verhalten kennenlerne“.