Rußland: Keine Macht den Räten

■ Regionale Sowjets lösen sich zum Teil selbst auf

Moskau (taz) – „Die Sowjets sollen die Entscheidung über ihre Selbstauflösung treffen“, sagte Boris Jelzin in seiner Fernsehansprache am Mittwoch abend, zwei Tage nach der Niederschlagung der blutigen Meuterei in Moskau. Bereits am nächsten Tag löste der Präsident dann den Moskauer Sowjet und alle Bezirkssowjets auf, die sich durch die Unterstützung des Aufstands diskreditiert hatten. Die Neuwahlen zu diesen regionalen „Räten“ sollen im Dezember gleichzeitig mit den Parlamentswahlen stattfinden. Von insgesamt 88 Sowjets in den Regionen und Teilrepubliken Rußlands hatten vor einer Woche Jelzins Ukas über die Auflösung des Obersten Sowjets 84 nicht unterstützt. Jetzt wird Jelzin seinen überwältigenden Sieg dafür benutzen, um mit ihnen ein für allemal abzurechnen.

Sein Sieg bedeutet auch das Ende der sogenannten Sowjetmacht. Auf russisch ist die „Sowjetmacht“ die offizielle Bezeichnung des nach der Oktoberrevolution entstandenen politischen Systems. Für „den Sieg der Sowjetmacht“ kämpften die Bolschewiki im Bürgerkrieg: „Wir alle bis auf den letzten Mann sind bereit, für die Macht der Sowjets zu sterben“, hieß es in einem Kampflied aus dieser Zeit. So neu und revolutionär waren diese „Machtorgane der Arbeiterklasse“ dennoch nicht. Sie nahmen eine tausendjährige russische Tradition wieder auf. Doch nicht diejenige des Parlamentarismus. Die gab es nämlich in Rußland nicht. Was es gab, war eine Versammlung der Städtebürger, die sogenannte „Wetsche“, die den Bürgermeister und den Fürst ernannte. Es wurden aber keine Abstimmungen durchgeführt, und die ganze „prädemokratische“ Prozedur endete meistens mit einer Schlägerei — beinahe wie während der letzten Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten.

Im zentralistischen Moskauer Staat wurde regelmäßig der „Semskij Sobor“, die „Versammlung des ganzen Landes“ einberufen. Es war aber keine richtige Ständevertretung wie etwa das englische Parlament, sondern ein Instrument der Zarenmacht. Sogar die sogenannte Duma – das vom Zaren Nikolaus II. Anfang unseres Jahrhunderts zugelassene Parlament – blieb rechtlos und wurde nach jedem Widerstandsversuch immer wieder aufgelöst und neugewählt. Die „Macht der Sowjets“ war im Grunde genommen die äußerste Konsequenz dieser Entwicklung. Die Sowjets ersetzten die Zarenadministration, sehr bald degradierten sie aber zum bloßen Instrument der kommunistischen Partei. Alle russischen Vertreterkörperschaften waren somit von der autoritären Macht instrumentalisiert. Sie hatten eine rein dekorative Funktion.

Die Macht ergriffen die Sowjets paradoxerweise nur einmal: Am Ende der Perestroika und am Anfang von Jelzins Liberalisierung. Nach dem Ende der UdSSR wechselte die alte kommunistische Nomenklatura in die regionalen Sowjets. Nun will Boris Jelzin seinen Sieg dafür benutzen, um die alte politische Elite zu entmachten. Zum ersten Mal steht auf der Tagesordnung russischer Politik eine grundsätzliche Veränderung des gesamten politischen Systems. Es handelt sich um die „Transformation der Sowjets zu den normalen Vertreterkörperschaften“, so Boris Jelzin. Die Auflösung der legislativen Staatsmacht in Rußland bedeutet weder Diktatur noch Anarchie, sondern den Sturz des totalitären „Monsters“.

Bereits einen Tag nach der Rede Jelzins zeichnete sich dann auch eine positive Entwicklung ab. Viele Sowjets – allen voran der Petersburger Stadtsowjet – distanzieren sich von der Entscheidung ihrer Vorsitzenden, den aufgelösten Obersten Sowjet zu unterstützen und laufen auf die Seite der Sieger über. Abgelehnt wurde die Selbstauflösung bisher vom Karelischen Sowjet, dort wurde die Forderung Jelzins nur von 26 der 74 Anwesenden akzeptiert. Den hartnäckigen Verfechtern der Sowjetmacht drohte die Präsidentenverwaltung daher mit der gewaltsamen Auflösung.

Einen Tag nach der Suspendierung des russischen Verfassungsgerichts durch Boris Jelzin wird im Kreml darüber nachgedacht, am 12.Dezmeber nicht nur Parlamentswahlen, sondern auch ein Referendum über die neue russische Verfassung abzuhalten. Der Entwurf dieses Grundgesetzes wird voraussichtlich am 5.November fertig sein. Die Suspendierung des Verfassungsgerichts hatte Jelzin mit dessen „kollaborierender Rolle“ während des Putsches begründet. Das Gericht soll seine Tätigkeit wieder aufnehmen, sobald eine neue Verfassung verabschiedet worden ist. Boris Schumatsky