■ Ökolumne
: Atommüll global Von Gerd Rosenkranz

Vieles spricht dafür, daß im Lande Niedersachsen auch nach dem nächsten Urnengang stabile Verhältnisse herrschen. Trotz Gerhard Schröder und Rot- Grün. Kaum weniger wahrscheinlich scheint, daß es dann in Rußland immer noch so zugeht wie in diesen Wochen. Soweit können sich die Kreml- und die Leineschloß-Astrologen rasch einigen. Doch wie schaut's im Jahr 11993 oder 101993 in Hannover aus, wie in Moskau und wie im fernen Sibirien? Niemand weiß es. Sicher ist nur: Wenn die Menschen bleiben, wie sie sind und waren, dann werden in den kommenden hunderttausend Jahren stabile und instabile Zeiten, Krieg und Frieden, Zerstörung und Wiederaufbau einander abwechseln wie die Gezeiten des Meeres – in Hannover und Moskau, in Niedersachsen und Rußland.

Ist es angesichts einer solchen Perspektive „unmoralisch“, „skandalös“ oder „unverschämt“, die Örtlichkeit für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem auf Jahrtausende strahlenden Atommüll auch jenseits der niedersächsischen oder deutschen Grenzen des Jahres 1993 zu sondieren? Eine ungewöhnlich große Koalition von Klaus Töpfer bis Greenpeace vertritt vehement diese Meinung. Mit dem Gestus der Empörung wird verbal abgestraft und den kriminellen Giftmüllexporteuren unserer Tage zugerechnet, wer einen Blick auf geologische Tiefenformationen im fernen Sibirien oder sonstwo in Europa wagt. Es herrscht Denkverbot. Doch die Hinweise auf politische Instabilitäten, auf einen Mangel an Mitbestimmung der potentiell Betroffenen oder die unterschiedliche technologische Potenz von Ost und West, Nord oder Süd wirkt angesichts der transhistorischen Dimension, die das Atommüllproblem einzigartig macht, eher komisch.

Nun sind alle Beteiligten nicht so naiv, wie sie sich geben. Anti-Akw-Bewegte wissen ebenso wie der Reaktorminister, daß niemand ein Endlager just dann in einer abgelegenen Region installieren will, wenn dort Panzer rollen. Doch Töpfer fürchtet um den Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke, wenn die Entsorgungsdebatte von vorn losgeht. Die Umweltschützer sorgen sich umgekehrt, daß angesichts der heraufziehenden Gorleben-, Morsleben- und Schacht-Konrad-Dämmerung eine „formale Sicherung des Entsorgungsnachweises durch Internationalisierung des Atommülls“ auf dem Programm stehen könnte.

Schieben wir, auf wüste Beschimpfungen gefaßt, diese Argumente der Tagespolitik einen Moment beiseite. Was sehen wir? Wir sehen, wenn es hoch kommt, zwei Generationen der Menschheit, angesiedelt auf der Sonnenseite des Lebens, die Atomstrom produzieren und das dicke Ende dieser Errungenschaft ihren Kindeskindern bis ins tausendste Glied überlassen. Die (wir!) Nutznießer des Nuklearstroms haben beschlossen, daß die Deponierung des Strahlenmülls eine nationale Aufgabe ist. Also buddelt jedes Land, das jemals ein Atomkraftwerk besaß, ein Loch in den heimischen Boden, hoffend auf ein „eignungshöffiges“ Wirtsgestein. Die Erfahrung zeigt: Als geeignet gilt, was verfügbar ist. Die anvisierte dezentrale Lagerung hilft – vulgärwissenschaftlich gesprochen – der Entropie zu ihrem Recht (die „will“, daß sich alle Materie im Universum gleichmäßig verteilt). Die Festlegung auf viele kleine Strahlendeponien gründet auf der gerade 200 Jahre alten, diskreditierten Idee des Nationalstaats. Die Befürworter nationaler Lösungen gehen wie selbstverständlich davon aus, daß auch in zehn- oder hunderttausend Jahren Deutsche Deutsche und Russen Russen sind. In den Grenzen von 1993. Eine merkwürdige Vorstellung.

Atommüll ist kein nationales, sondern ein Menschheitsproblem. Es kann nur international entschärft werden. In einem ersten Schritt müssen die laufenden Meiler abgeschaltet werden, damit wir die Dimension der Last kennen, die wir denen aufbürden, die nach uns kommen. Dann müssen nach bestem Wissen und Gewissen Kriterien der Strahlen- und militärischen Sicherheit sowie der Sozialverträglichkeit ausfindig gemacht werden, die ein Endlager erfüllen muß. Sie bestimmen den Standort. Voraussetzung für all dies ist eine internationale Organisation für den Bau, den Betrieb und den Nachbetrieb der Deponie. Diese Organisation ist einzigartig wie das Problem, das sie regeln soll: Sie muß überleben, selbst wenn ansonsten auf dieser Erde kein Stein auf dem andern bleibt. Und voraussichtlich über 10.000 Jahre halten. Kein Fall für Tagespolitik und keiner für „nationale Verantwortung“.