„Wir sind für Rechte und für Linke da“

■ Die Streetworkerin Christine Günther zum Fruststau unter Hallenser Jugendlichen

taz: Warum weigern Sie sich, im Zusammenhang mit Jugendgewalt von rechtsextremistischen Gewalttätern zu reden?

Christine Günther: Ich kann nur über das sprechen, was ich in drei Jahren Straßensozialarbeit erlebt habe. Ich bin bei den Jugendlichen zwar auf eine rechte Orientierung gestoßen, doch die wurde eher als Protestform gegen die Erwachsenen zur Schau getragen. Das geschah in einem sogenannten antifaschistischen Land; die Eltern sind ja von der Wiege an antifaschistisch erzogen worden. Die Nichtaufarbeitung der SED-Zeit hat auch zu Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen geführt. Die Jugendlichen wußten zum Teil mit dieser Situation nicht umzugehen. Die Sprachlosigkeit versuchten sie dann mit einem Protest zu überwinden, der die Erwachsenen schockierte. Sie konnten sicher sein, daß die Erwachsenen auf diese rechte Provokation reagieren. Ansonsten haben die Jugendlichen kaum Reaktionen von den Erwachsenen erfahren; die waren ja durch die Wende mit eigenen Problemen vollauf beschäftigt.

Beim rebellischen Protest ist es nicht geblieben. Hat sich die rechte Orientierung verfestigt?

Man muß unterscheiden, ob die Jugendlichen sich rechten Organisationen oder Parteien anschließen oder ob sie ihren Frust ausleben. Das kann sich erledigen, wenn sie andere Formen des Protestes für sich finden. Es kann aber auch sein, daß ihnen dieser Protest nicht mehr ausreicht und niemand da ist, der darauf reagiert. Wenn dann bestimmte Vertreter rechter Gruppierungen in die Lücke stoßen, sind sie gefangen. Insgesamt ist die Gewalt bei Jugendlichen kein rechtes Phänomen. Gewalt ist nicht mehr abhängig von einer politischen Polarisierung, sondern hat viel mit Alltagsfrust und der Abwehr durch Erwachsene zu tun.

Sie haben in Halle die im Westen lange Zeit verfolgte Strategie der Ausgrenzung nach dem Motto „Nazis raus“ gegenüber rechten Jugendlichen nicht mitgemacht. Weshalb?

Weil die Jugendlichen trotz Ausgrenzung noch da sind und sich nicht dadurch verändern, daß man sich nicht mit ihnen beschäftigt. Sie waren ja noch auf der Suche nach Orientierung. Wir haben versucht, ihnen andere Orientierungen anzubieten, ohne sie zu belehren. Deshalb haben wir Streetwork stadtteil- und nicht szeneorientiert angeboten. Alle Jugendlichen, die mit uns Kontakt aufnahmen, mußten mit der Tatsache leben, daß wir für alle da waren – von links bis rechts.

Nach drei Jahren hat es eine Befriedung gegeben. Wir haben zwar auch weiter Jugendliche, die sich „national“ orientieren, aber es gibt keine rechtsradikalen gewalttätigen Übergriffe mehr in Halle. Wir haben auch keine organisierten rechten Gruppen. Die konnten bei uns nicht Fuß fassen – auch nicht in dem von rechten Jugendlichen besetzten Haus.

Sind die Jugendlichen, die Sie jetzt seit drei Jahren kennen, in der Szene geblieben?

So eindeutig kann man das nicht sagen. Gerade zu der Zeit, als die Gewaltbereitschaft noch sehr groß war, gab es welche, die dorthin strebten, wo die größte Aktion war. Rechte Jugendliche wechselten in die linksautonome Szene – und umgekehrt.