Koalitionszwang spaltet die SPD

■ Neokonservativer Voscherau-Flügel und moderne Linke haben kaum noch was gemein

„Krise?“ SPD-Chef Helmuth Frahm kann das Wort schon nicht mehr hören: „Hamburg ist nicht Somalia. Wir haben eine Richtungsentscheidung in großer Geschlossenheit getroffen. Ich bin optimistisch.“ Richtungsentscheidung? Optimismus? Auch am Sonntag, zwei Tage nach dem nervenzerfetzenden SPD-Krisengipfel, ist das Rätsel der SPD-Vorstandsentscheidung erst in Ansätzen entziffert. Neue Fragen tun sich auf:

Aus wievielen Parteien besteht die SPD heute? Will Voscherau überhaupt verhandeln oder freut er sich schon jetzt darauf, den 20.000 SPD-Mitgliedern die Entscheidung „Rot-Grün oder Voscherau“ vorzulegen? Wenn ja, wer wird dann sein Nachfolger? Ortwin Runde gar, den bis auf einen kleinen Filz-Fan-Kreis kaum jemand für bürgermeistertauglich hält? Oder ein rettender Engel von außen? Oder wird es der SPD-Rechten gelingen, Jürgen Warncke und Doris Mandel vom SPD-Arbeitnehmerflügel umzudrehen, die zu Voscheraus Entsetzen und wider dessen Erwarten unter den 13 Vorstandsstimmen für Rot-Grün waren?

SPD-Chef Helmuth Frahm ungerührt: „Wir sind in unserem Klärungsprozeß ein Stück weiter.“ Voscherau sibyllinisch: „Wir werden jetzt verhandeln. Das wird sicher sehr schwer. Das kann gut gehn. Das kann auch schief gehn.“ Hatte Voscherau bei seinem Wahlsieg 1991 noch jubilierend vom neuen „Wir-Gefühl“ geschwärmt, redet er jetzt vom drohenden „Scherbenhaufen“. Teil des Haufens: Bürgermeister Henning Voscherau. Umgeben von vielen Hofschranzen und mittelmäßigen Beratern (darunter die Senatoren Thomas Mirow und Werner Hackmann), bildet er eine eigene Regierung in der Regierung.

Seine „Essentials“ zu den Themen „Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit, Verkehrspolitik, Innere Sicherheit, Zuwanderung, Finanzpolitik, Wohnungsbau und Kindergärten“ dokumentieren aus der Sicht von Experten zu großen Teilen eine antiquierte und veraltete Wirtschafts- und Standortpolitik. Zu einer offenen und kritischen Diskussion der inhaltlichen Qualität der wirtschaftspolitischen Auffassungen des Juristen Voscherau ist die SPD jedoch nicht in der Lage. Dabei lehnt der übergroße Teil gerade jener Experten, Planer, Wissenschaftler und Architekten, die über ein Hamburger SPD-Parteibuch verfügen, Voscheraus Auffassungen in Sachen Standortpolitik nachdrücklich ab.

Erste Sahne dagegen sind die detaillierten Sachdossiers zu tausendundeiner Einzelheit, in den Voscherau sein Herrschaftswissen kumuliert und mit denen er unbedarfte Gesprächspartner von Grünen und Statt-Partei verblüfft.

Die Gräben zwischen diesem neokonservativen Machtzentrum, das einem Wolfgang Schäuble weit näher steht als dem SPD-Grundsatzprogramm, und den modernen Teilen der SPD sind inzwischen weit tiefer als jene zwischen Grünen und moderner SPD. Diese SPD weiß inzwischen zwar die Mehrheit der Partei hinter sich, ist aber mit der veröffentlichten Meinung kaum vernetzt. Nur so ist auch erklärbar, daß bis auf die taz kein Hamburger Medium das rot-grüne Übergewicht in der SPD richtig einordnen konnte.

Dieses Übergewicht hat nicht nur kommunikative Defizite: Es fehlt an Personen, die auch eine glaubwürdige und integrierende Alternative zu Voscherau böten. Allein Machtkalküle bestimmen deshalb den Gang der Dinge: Voscherau wird gebraucht, weil er das rechte SPD-Lager am besten kontrollieren kann. Fällt er, müssen zur Einbindung der Rechten übermäßig viele Pfründe geopfert werden. Rot-grüne Koalitionsverhandlungen, sollten die verschiedenen SPDs sie überhaupt ernsthaft betreiben, werden sich deshalb voraussichtlich in erster Linie um ideologische Symbole (Voscheraus Essentials) und Machtkalküle (wer kriegt was, damit er auf Dauer mitzieht) drehen.

An der SPD-Basis rumort es derweil heftig. Für die „Eiertänze“ ihrer Spitze hat sie immer weniger Verständnis. Was für Parteistrategen Sinn macht, verprellt die Genossen an der Basis. Eine 71jährige Ohlsdorferin, seit 40 Jahren in der SPD, zur taz: „Das Wahlergebnis heißt doch Rot-Grün. Wenn Voscherau mit der Statt-Partei geht, diesen Rechten, dann trete ich vielleicht wirklich aus.“ F. Marten