Bleierne Schwere über Algier

Seit zwei Jahren lähmt eine Serie von Attentaten das Leben in Algerien / In der Hauptstadt geht nun die Angst vor einem drohenden Bürgerkrieg um  ■ Aus Algier Stephan Trudewind

Elfter September: Der 32jährige Journalist Saad Bakhtaoui stirbt im Kugelhagel von vier Attentätern.

21. September: Die zwei Franzosen François Barthelet, 32 Jahre und Emmanuel Didion, 25 Jahre, beide als Landvermesser bei Oran beschäftigt, werden von einer Maschinengewehrsalve niedergemäht.

28. September: Abderrahmane Chergou, ein alter Kämpfer des Unabhängigkeitskriegs und Journalist, wird erstochen.

30. September: Ahmad Hambali, Professor für islamisches Recht an der Universitität von Titzi-Ouzu, der Hauptstadt der Kabylei, wird erschossen.

5. Oktober: Rabah Guenzet, ein führender Kommunist, wird vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder erschossen, als er vor seinem Haus in Algier aus seinem Auto steigt.

6. Oktober: In der Region Baouira im Südosten des Landes werden der örtliche Vorsitzende einer Veteranen-Vereinigung sowie ein designierter Bürgermeister in ihren Wohnungen ermordet.

10. Oktober: Der Kinderarzt Djillalil Belkhenchir wird in einen Hinterhalt gelockt. Vor einem Haus, in dem er einen angeblichen Notfall behandeln soll, strecken ihn Unbekannte mit einem Kopfschuß nieder.

Die Liste derer, die in den letzten vier Wochen in Algerien Attentaten zum Opfer gefallen sind, ist unvollständig. Angesichts der Morde macht sich in der Hauptstadt Nervosität breit.

Aischa wohnt in Ain Taya, in einem jener eilig hochgezogenen Wohnklötze, wie sie typisch sind für die Vororte Algiers. Seit meinem letzten Besuch im Februar hat sich in ihrer Wohnung viel verändert. Vor die hölzerne Wohnungstür im 5. Stock, deren Schloß ausgewechselt ist, hat sie eine eiserne Kellertür montieren lassen, ihr Balkon ist rundum mit einem stabilen Gitter dicht gemacht und die Fensterläden wurden mit einem Riegel zusätzlich gesichert. Ein Zimmer hat sie Freunden abgetreten, denen ihre alte Wohnung nicht mehr sicher genug war.

Mein alter Freund Djamel wohnt noch immer mit seinen vier Geschwistern bei seinen Eltern in einer kleinen Dreizimmerwohnung in Bab el-Oued. In dem Stadtteil stieg Ali Belhadj im Dunstkreis sozialer Brennpunkte von der Sunna-Moschee aus zu einem der Führer der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) auf. In dem heruntergekommenen Wohnblock in kolonialem Baustil wurde die Haustür instandgesetzt und seit neuestem hält man sich daran, daß der letzte abends die Türe schließt.

Seit zwei Jahren reißt die Kette von Anschlägen nicht ab. Doch bis in diesen Sommer galt die Wut der Attentäter den politischen Repräsentanten und den Symbolen der Staatsmacht. Polizeistreifen, Militärkasernen und Politiker waren typische Opfer ihrer Angriffe. Seit diesem Frühjahr hat sich die Situation geändert: Zu den neuen Opfern zählen u.a. die beiden Soziologen Djilali Liabès und Mohammed Boukhobza, der Psychologe Boucebzi, der Mediziner und Theaterfreund Laadi Flici und der Journalist und Schriftsteller Tahar Djaout. Die Attentate gelten nun den Intellektuellen, vornehmlich jenen spärlichen Vertretern einer zivilen Gesellschaft, die von einem säkularistischen Standpunkt aus ihre Stimme gegen die Islamisten einerseits und gegen die Repräsentanten des alten Regimes erhoben.

Manche meiner Bekannten – Lehrer, Ärzte, Journalisten – treffe ich nicht mehr an. Die einen, weil sie nach Frankreich oder Tunesien gegangen sind, die anderen, weil sie sich bei Freunden einquartiert haben, wieder andere sind nur noch über Mittelsmänner erreichbar. Überall spüre ich Nervosität, dieses diffuse Gefühl von Bedrohung, das auch beim besten Couscous und bei der Freude des Wiedersehens nur für kurze Zeit schwindet. Algerische Künstler müssen ihre Ohnmacht inzwischen im Ausland artikulieren. Mitte August machten Rashid Koraishi, Houira Aishi und Amrane Minne mit einer „Nacht des Weihrauchs“ im Nachbarland Tunesien auf die Tragödie in ihrem Heimatland aufmerksam.

Ich begleite Aischa zu der Beerdigung von Abderrahmane Chergou. Zirka 500 Personen haben sich vor seinem Haus versammelt. Die Männer stehen in kleinen Grüppchen auf den Straßen rundum, die Frauen im Hauseingang und Treppenhaus. Der Tod geht sie alle an: Arbeiter, Akademiker, jung und alt. Die Atmosphäre ist gedrückt, man redet wenig. Wir erfahren Details der Tat: Morgens um 8.30 Uhr, nach dem Einkaufen im Hausflur ... – Wir bahnen uns den Weg durch ein Spalier von Trauernden das Treppenhaus hoch zur Wohnung. – Drei Messerstiche waren es ... – In der Wohnung liegt die Leiche aufgebahrt, eingewickelt in der algerischen Nationalflagge. Von den Nachbarzimmern dringt Weinen und der Schmerz engerer Familienmitglieder zu uns rüber. – Sie haben ihn noch ins Krankenhaus gebracht, doch zu spät ... – Die Trauer ist durchsetzt von einem beklommenen Schweigen. Jeder weiß hier, daß er der nächste sein kann. Ab und an das „Yuhyuhyuh“, jenes kehlige und laute, stakkatoartige Heulen, das man aus arabischen Ländern kennt. Heute ist es ein Aufschrei der Ohnmacht. Aber das Schweigen dominiert. Müde und resigniert bewegt sich der Trauerzug zum Friedhof.

Aischa hat einen Weggenossen verloren, einen politischen Freund. Denn wie Chergou ist sie Mitglied der „Partei der sozialistischen Avantgarde“ (PAGS), jener bis 1988 inoffiziellen Nachfolgepartei der algerischen Kommunisten. Nach ihrem Studium hat sie hier ihre politische Heimat gefunden. Sie hat Gewerkschafts- und Stadtteilarbeit gemacht und sich beim Aufbau der ersten unabhängigen Frauengruppen beteiligt. Aischa gehört zu jenen Frauen, die von der Bildungsoffensive zu Beginn der siebziger Jahre profitierten. Sie hat studiert und lehrt nun an einer Handelsschule Management und Unternehmensorganisation. Darüber ist sie aus dem für Algerierinnen üblichen heiratsfähigen Alter hinausgewachsen. Jetzt fesselt sie die politische Situation an ihre Wohnung, wie es kaum ein Ehemann vermocht hätte.

Wer sind die Täter, wer die Verantwortlichen? Die Regierung sagt: „Die Islamisten!“ Tatsache ist, daß die „Bewaffnete Islamische Bewegung“ (MIA), der militante Arm der verbotenen „Islamischen Heilsfront“ (FIS), mordet. Doch Beweise für konkrete Anschläge sind selten, und Bekennerschreiben gibt es nie. Bei vielen Attentaten bleibt die Urheberschaft ungeklärt. Ungereimtheiten bei der Ermordung des Vorsitzenden des Hohen Staatsrats Muhammad Boudiaf vom 29. Juni 1992; wenig überzeugend die Indizien bei der Ermordung des ehemaligen Premierministers Kasdi Merbah Ende August dieses Jahres; offene Fragen auch bei der Ermordung von Tahar Djaout. Einige seiner Angehörigen machen nicht die FIS, sondern das Militär für den Mord verantwortlich.

Doch nach welchen Kriterien werden die Opfer ausgesucht? Intellektuelle stehen in der Schußlinie, aber es trifft auch Bauern, arbeitslose Jugendliche und nun auch Franzosen. Anschläge werden gegen Schulen, Lebensmittellager und Betriebe verübt. Inzwischen glaubt kaum noch jemand, daß allein die Islamisten für die Attentate verantwortlich sind. Es gilt als sicher, daß bestimmte Kräfte die Situation ausnutzen, um alte Rechnungen zu begleichen. Mehr als das Kritierium Willkür und das Ziel Zerstörung sind kaum noch zu erkennen. Die Diskussion über die Täter ist unergiebig, aber das Resultat um so schockierender. Denn gegen wen soll man kämpfen, wem darf man noch trauen?

Gegenüber diesem Gefühl der Verunsicherung sind die öffentlichen Sicherheitsmaßnahmen und die nächtliche Ausgangssperre leicht handhabbar. Ab 23.30 Uhr muß jeder von der Straße verschwunden sein. Ab 23 Uhr schließen die Hotels, ab 22 Uhr machen sich die Taxis rar, um 21 Uhr lassen die Restaurants die Rolläden runter, um 20 Uhr stellen die Busse ihren Fahrbetrieb ein. Diesen Zeitplan hat man schnell verinnerlicht, und auch die Taschenkontrollen beim Betreten von Kaufhäusern, Banken und Postämtern gehören zur alltäglichen Routine. Straßenpatrouillen gibt es dagegen auffallend wenige. Als wir freitags zur Zeit des großen Mittagsgebets durch Bab el-Oued spazieren, hat sich die Staatsmacht in ihren erkennbaren Formen zurückgezogen. Ob man die Betenden, die bis weit vor die Moscheen hinaus auf den Straßen knien, nicht provozieren will? Ob diese Normalität von der Besonnenheit der Staatsmacht zeugt? Die Sicherheitsorgane haben ihre alte Souveränität wiedergewonnen. Die Patrouillen durchkämmen nicht mehr wie im Frühjahr vermummt die Straßen und reagieren weniger nervös.

Diese Normalität der öffentlichen Sphäre konstrastiert auffällig mit der bleiernen Schwere, die all jene umgibt, die ich besuche. Hier eine kontrollierte Selbstgefälligkeit, dort ein Verlust an Zuversicht. Zum einen bekomme ich staatsmännische Reserviertheit zu spüren, zum anderen die rasante Aushöhlung privater Lebenszusammenhänge.

Die Staatsmacht berät seit geraumer Zeit und in vielen Gremien über die Verschärfung der Situation. Die Armeespitze tat dies zuletzt Ende August, ohne daß Inhalte und Ergebnisse bisher nach außen drangen. Der „Hohe Sicherheitsrat“, das höchste politische Gremium, trat am 15. September das dritte Mal seit seinem Bestehen zusammen, um die Sicherheitslage zu diskutieren. Das Treffen blieb für die Einwohner Algiers ohne spürbare Konsequenzen. Und die neu eingewechselte Regierung berät mit den legalen Parteien, ob und unter welchen Bedingungen man einen Dialog fortsetzen soll. Die Zeitung Liberté titelte dazu erst neulich: „Trotz Wandel bleibt alles beim Alten“.

Eigentlich hat die Staatsmacht keinen Grund, entschiedener zu reagieren. Ihr fehlt eine soziale Basis, seitdem die „Nationale Befreiungsfront“ (FLN), die einstige Einheitspartei, unwiederbringlich diskreditiert ist. Von den mehr als 60 Parteien verfügen nur wenige über nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung, und diese wenigen, wie beispielsweise die „Front sozialistischer Kräfte“ (FFS) und die „Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie“ (RCD) sind zu einem Dialog nur bereit, wenn sie auch an der Macht teilhaben dürfen. Doch das wollen weder die Armee noch die alte politische Elite. Zumal die Anschläge diese immer seltener selbst treffen und ihr die ungeliebte Opposition eher noch in die Arme treibt. Man wird den Eindruck nicht los, als hätten sich die Machthaber auf ihre Art mit dem jetzigen Zustand abgefunden.

Aischa spricht die Alternative zum Status quo als erste aus: Sie hat Angst vor einem Bürgerkrieg. Wenn sich die Staatsmacht nicht endlich zu einschneidenden Reformen durchringt und die Bedrohung durch den Terror anhält, dann ist irgendwann der Zeitpunkt gekommen, sich zu wehren. Noch sind es erst vereinzelte Stimmen, die nach Waffen rufen, um den Attentätern etwas entgegenzusetzen. Bei Chergous Beerdigung kommt diese Forderung hie und da als Ausdruck ohnmächtiger Wut auf. An die Öffentlichkeit sind damit bisher nur die Mudschaheddin, der Zusammenschluß der alten Kämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg, getreten. Regierungschef Rédha Malek beschwichtigte in einer Pressekonferenz am 16. September: „Es gibt in Algerien keinen Bürgerkrieg!“ Doch je öfter dieser Begriff fällt, desto schwerer läßt sich die Gefahr übersehen.