Immun gegen Mitleiden

Die heilige Kuh der Grünen heißt Pazifismus. Sie wurde nicht geschlachtet auf dem Parteitag. Dafür ächteten die Friedensengel gnadenlos alle „Interventionisten“.

Daß die Grünen nüchternen Politikstil proben, gilt längst als ausgemacht. Insbesondere der Geschmack am Betroffenheitsritual früherer Jahre hat nachgelassen. Doch derart gründlich wie diesmal auf ihrem Bonner Sonderparteitag zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat sich kaum zuvor eine grüne Versammlung gegen Betroffenheit immunisiert. „Wir danken der Gesellschaft für bedrohte Völker für ihren Hinweis auf den Völkermord in Bosnien“, verabschiedete ein geschäftsmäßiger Versammlungsleiter die bosnischen Frauen vom Podium der Beethovenhalle, wo sie gerade ihre Transparente entrollt hatten: „Grüne, habt Mitleid, laßt die Bosnier nicht sterben!“ – „Grüne, gleichgültig wie alle andern auch?“

Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle, vehement gegen ein Rederecht für die Demonstrierenden, antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie kann man auf diesem Parteitag eine sachliche Atmosphäre herstellen?“ Eine Antwort blieben die Bosnierinnen schuldig. Ob sie verstanden, daß die Emotionen der grünen Versammlungsmehrheit diesmal einer eher ideellen Rettungsaktion galten? In Bonn jedenfalls drehte sich alles um grünen Pazifismus und ums gute Gewissen.

Beide wurden gerettet.

Elf Anträge standen in Bonn zur Debatte. Neun, darunter der Antrag von Parteisprecher Ludger Volmer, setzten auf prinzipiell gewaltfreie, zivile Konfliktlösung. Der Bundestagsabgeordnete Gerd Poppe und Daniel Cohn-Bendit, grüner Dezernent für Multikulturelles in Frankfurt am Main, plädierten dagegen für ein notfalls auch gewaltsames Eingreifen zum Schutz der bosnischen Muslime. Eine vergleichbare Position war auch auf dem grünen Länderrat im Juni überraschend beschlossen worden. Doch diesmal genügte schon das von Ludger Volmer zu Beginn der Debatte skizzierte Interventionsszenario – erst der „Einmarsch“ in Bosnien, am Ende womöglich der „Atomkrieg“ –, um Beifallswogen zu erzeugen. Mit deren Hilfe kamen Poppe, Cohn- Bendit und andere schnell auf den Boden grüner Realität. „Wir lassen uns die historische Chance der Deeskalation nicht kaputtmachen“, warnte Volmer. „Wenn die Mächtigen der Welt den Frieden nicht wollen, dürfen wir, die Ohnmächtigen, nicht nach Waffen rufen.“ Noch Volmers Beschwörung eigener Ohnmacht weckte bei der Versammlung triumphale Gefühle. Man hätte also schnell entscheiden können. Doch während die Kids im Foyer einer Kohl- Puppe immer wieder mit handlichen Wurfbeuteln den Blauhelm vom Kopf holten, ging es auch drinnen im Saal stundenlang hin und her. Hauptsächlich hin: „Für den Frieden kämpfen, das geht mit Waffen nicht“, befand Vorständlerin Angelika Beer. Ihre Diagnose: „Deutsche wollen wieder schießen dürfen wie all die anderen auch.“ Ihre Hoffnung: „Daß die Gewaltfreiheit in keiner Form vernebelt, aufgeweicht, verundeutlicht wird.“ Ihre Strategie: „Laßt uns sagen, wir schaffen die Bundeswehr ab, und bei der UNO machen wir nicht mit.“ Daß Angelika Beer selbst den Volmer-Antrag miteingebracht hatte, in dem die UNO immerhin als einzig legitimer Akteur ziviler Konfliktschlichtung ausgedeutet werde, störte die Rednerin nicht. Auch daß Volmers Antrag im Falle eklatanter Verletzung der Menschenrechte Sanktionsmaßnahmen für praktikabel erklärt – „Blockade von Staaten oder Regionen“ –, daß er zu diesem Zwecke „Überwachungsverbände“ fordert, denen immerhin ein „restriktiver Waffengebrauch“ zugestanden wird, solche eher sperrigen Details gingen im Debattenrausch zur Rettung des prinzipiellen Pazifismus glatt unter.

Was am Ende beschlossen wurde, der Volmer-Antrag, ist ohne Zweifel besser, als das Gros der Reden, die ihn stützten. Denn unter dem Druck der „Interventionisten“ und in der Not, Menschenrechtsverletzungen mehr entgegensetzen zu müssen als nur die billigen Formeln prinzipieller Friedfertigkeit, hat sich Volmer bis dicht an die Grenze des „Verbotenen“ vorgearbeitet. Während er für die einen, vor allem in seiner Rede, den unbeugsamen Pazifisten mimte, bot er den anderen, denen die Chance zur rituellen Selbstbestätigung nicht mehr reicht, die Perspektive ziviler Konflikteindämmung im Rahmen der UNO. Das war ein wenig listig und funktionierte. Volmer bediente damit sowohl angehende grüne Realpolitiker wie die, die partout keine werden wollen. Für letztere finden sich im Antrag verstreut die geliebten Glaubenssätze: „Die Bundesregierung will am Geschäft mit dem Krieg, das Ruhm, Rüstungsaufträge, Arbeitsplätze und pathetisch abzufeiernde Staatsbegräbnisse bringt, teilhaben.“

Solche Sätze haben ihren Preis. Den allerdings hatten in Bonn diejenigen zu entrichten, die sich gegen derart bescheidene Analysen sperrten. Da nutzte es wenig, daß auch Gerd Poppe „vor allen anderen Schritten“ zivile Konflikteindämmung propagierte. Denn weil er der Situation – „wenn alle anderen Mittel versagen“ – nicht auswich und für den „sehr, sehr eingeschränkten Fall“ auch die militärisch flankierte Nothilfe einforderte, bekam er am Ende nur für einen Satz Applaus: „Ich komme zum Schluß.“

In der Rolle des weniger aufrechten Verlierers fand sich in Bonn Joschka Fischer. Nachdem er der innergrünen Bosnien-Debatte über ein Jahr lang ausgewichen war, versuchte er in Bonn, ein bißchen überschlau, auf den Mehrheitszug aufzuspringen. Er diente Volmer und der Versammlung eine „Völkermord-Klausel“ an, die, so Fischers Beteuerung, „wirklich keine Hintertür“ für eine „militärisch gestützte Außenpolitik“ sein sollte. Doch die Versammlung lehnte dankend ab. So mußte Fischer selbst auf die symbolische Teilhabe an der Bonner Einigkeit verzichten. Daß Volmer dann mit großzügiger Geste ein paar Satzbrocken Fischers, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, in seinen Antrag einbaute, war eine als Konzession verpackte Demütigung, ein Aperçu im Macho-Clinch.

Doch das eigentlich Irritierende der Bonner Versammlung lag nicht in solchen subtil ausgetragenen Animositäten, sondern im rigorosen Umgang mit der Minderheit. Bieten neunzig Prozent nicht die Chance zu tolerantem Umgang mit ein paar Abweichlern? In Bonn jedenfalls wurden die Abstimmungsniederlagen der inkriminierten Anträge einzeln bejubelt. Der Wunsch von Parteisprecherin Marianne Birthler, „daß die heute geführte Diskussion den Respekt voreinander zum Ausdruck bringt“, blieb auf der Strecke.

So hatte denn auch Daniel Cohn-Bendit, im sicheren Vorgefühl des Verdiktes, allen Grund zu großer Rede. Sein in Pathos und Spott verpackter Appell trieb die Polarisierung zum Höhepunkt. Die Versammlung, die ihre Widersprüche fürs Rechtbehalten zuschüttete, wollte sich auf Cohn- Bendits Empfehlung – „Wir müssen die Verantwortung tragen, uns zu irren“ – nicht einlassen. Seine historischen Assoziationen, Madrid 1936 und Nazi-Deutschland, öffneten nichts mehr. Als er dann die vom Tode bedrohten Muslime als Teil der europäischen Kultur beschwor, als „Menschen von unserem Blut“, war das nur noch das Stichwort, an dem sich die angespannte Stimmung mit Pfiffen und Buhrufen entlud.

Cohn-Bendit blieb nicht viel mehr, als seine Niederlage mit einer Bitte zu verbinden: „Habt Verständnis, nennt uns nicht Militaristen, und treibt uns nicht aus der Partei.“ Und Marianne Birthler formulierte zum Schluß locker-resignativ: „Die Partei, die Partei hat nicht immer recht.“ Matthias Geis, Bonn