Die Nacht der reitenden Kuhhörner

■ Das 10. Internationale Bremer Puppentheaterfestival ist unwiderruflich vorbei / Eine lehrreiche Nachbetrachtung

Der Reiz an den Puppenspielern ist ja doch, daß wir sie ein wenig fürchten. Kein einzig Ding ist mehr verläßlich still und stumm, seit sie herumfuhrwerken; kaum heben sie einen Stein auf, feiert er seine Auferstehung von den Toten zu den Untoten und geht als tragischer Held auf der Puppenbühne um oder als ein Laib Kürbisbrot oder wie es eben sonst der Wille des Puppenspielers ist.

Begreiflicherweise neigen vor allem sadistische und boshafte Menschen dieser Allmachtskunst zu; aber leider auch sentimentale. Auf dem heurigen Festival des Theatriums namentlich Eric Bass. Die feinsinnigsten Puppen hatte er dabei, flugfähige Fahrradfahrer, stöckerbeinige Gelehrte und in der Hauptrolle ein Käthekrusekind, welches sich sehr kunstreich und wehsam zu bewegen wußte; aber ach, all diese Köstlichen waren nur eingespannt, einen alten Traum zu verherrlichen, den sogenannten Traum vom Fliegen.

Dabei ist der Traum vom Fliegen nichts als der schamloseste und zählebigste Seufzer der ganzen Erbauungsliteraturgeschichte. Kein Mensch hat je „vom Fliegen“ geträumt, höchstens vom Abhauen wie Dädalus, von Glanz und Gloria wie der doofe Schneider von Ulm oder vom unaufhörlichen Nervenkitzel wie unsere zeitgenössischen Drachenflieger und Paraglider, die ja nicht von ungefähr die größten Langweiler sind, sobald sie wieder herunter müssen.

Bass aber hat, auf daß sein Traum wenigstens den Schwarmseelchen vertraut vorkomme, auch noch das ganze restliche Inventar der Allerweltspoesie aufgeboten: freiheitliche Vögel, gefängnishafte Käfige und das zartbitterste Kind, das je im Manne verschollen ging.

Das Publikum aber trampelte vor Begeisterung und verbannte den Rezensenten in die Einsamkeit des Rechthabens. Es hatte auch den Chinesen aus dem Dorfe nahe Chaozhou mit Begeisterung gedankt, die ihre prunkvollen Puppen an Stäben sehr zeremoniös herumtanzen ließen, was uns allerdings weiter nichts anging. Das wirkliche Puppentheater begann erst hinterher: Da kamen sie auf die Bühne, fünf argwöhnische Dörfler samt mitreisendem dickem Kulturfunktionär, und hielten uns tapfer die Puppen entgegen, auf daß diese uns mit ihren Ärmchen stellvertretend zuwinkten. Als der Applaus kein Ende nahm, wagten sie sich sogar herab; nun mußten die ersten beiden Sitzreihen immerzu den Püppchen die Händchen schütteln, und das war die größte

Das „Holzwurm Figurentheater", wie es zum Leben erwachtFoto: Theatrium

Gunst. Freilich schüttelten wir einem hochnoblen Opernensemble die Händchen. Die Szenen, die wir gesehen hatten, entstammten allesamt der südchinesichen Chao-Oper, die man dort auf dem Lande noch heute gern mit Puppen aufführt, weil es billiger kommt.

Was man aber damit zuwege bringen kann, zeigte vor allem der Elsässer Gilbert Meyer. Er

hierhin die Teddybären

spielte uns den halben Dreißigjährigen Krieg vor mit Hilfe von Kuhhörnern, Nüssen und Kräuterbüscheln. Vor sich einen großen, uns zugeneigten Tisch, darauf ausgeschüttet einen Sack Getreide und allerhand Gerätschaften des versunkenen Bauernlebens, hinter sich Tücher, auf Stangen geknüpft: Das ist Meyers ganzes Theatre Tohu- Bohu, welches alleine lebt von

seiner Hurtigkeit. Wenn er kläffend und meckernd in einem Häuflein Kiefernzapfen wühlt und dazu mit verborgenen Schellen läutet, dann ist das eine Ziegenherde samt Hirtenhund, wie man sie sich charmanter gar nicht vorstellen kann.

Und die Flöte mit aufgestecktem Maskenköpfchen, das ist schon der ganze Simplicissimus, dessen Geschichte der Puppenspieler nun mit Händen und Füßen vollführt. Hier läßt er einen Reiter übers Korn einhertraben, dort rührt er schon im Topf ein großes Fressen an. Den Sack Nüsse, den er ehedem noch als Hut trug, den hat er sich an den einen Fuß gebunden; das gibt beim Stampfen die schönste Musik. Und der andere knipst schon mal die roten Lämpchen an.

Indem der famose Meyer ein jedes Ding so oder so verwendet, grad wie es ihm gefällt, gelingt es ihm wahrhaftig, seinen ganzen Kramladen in Betrieb zu halten. Singend, trommelnd und überall zugleich am Werk vollführt er aufs Wundersamste den Inbegriff der ganzen Puppenspielerei: die Geistesgegenwart.

Die Geistesgegenwart in allen Dingen zugleich hat etwas Tänzerisches. Für dräuende Beseelungsmagie ist da gar keine Zeit mehr. Ein jedes Ding muß, wenn so einer herumfuhrwerkt, jederzeit auf jedes Leben gefaßt sein; die Kuhhörner, aus denen er gesoffen hat, klappern unverzüglich ineinander wie fliehende Pferde. Die eine Bedeutung nehmen sie so gut an wie die andere. So erleben wir den alten, nun wirklich verdienstreichen Traum aller ideal gesinnten Geister in Aktion und sehen die Leichtigkeit des Schaffens aus nahezu nichts. Manfred Dworschak