Tonfläche & buntes Alphabet

■ Ein ziemlich sprachloser arte-Themenabend, 20.40 Uhr

Garantiert politikerfrei, geduldig und kamerabetont wagt arte das fast Unmögliche: einen Themenabend lang „Sprachlos! Vom Un-Sinn der Worte“ zu berichten. „Language is a virus from outer space“ – jenes Zitat von William S. Burroughs sowie Laurie Andersons entsprechendes Video („Language is a virus“) geben das Motto ab zu dieser Expedition in die sinnlichen Welten der Wahrnehmung. Gedanken werden zu Gefühlen – Anschauungen anschaulich – ein Begreifen im nicht- wörtlichen Sinne ermöglichen die „Klangfarben“, Marion Schmidts Bericht über musiktherapeutische Übungen an Klangskulpturen der Brüder Baschet bei Paris.

Tüftler Bernard und Ingenieur François erfanden so praktische Sachen wie die zerlegbare Gitarre mit einem Plastikballon als Klangkörper. Gegen den Trend zu elektronischer Musik („besser, vor allem lauter“) bastelten sie in den siebziger Jahren große Skulpturen, die (bitte berühren!) zugleich ganz neue Klangqualitäten boten – klavierähnliche Konstruktionen mit Kristallstäbchen etwa, auf denen sphärisch weiche Tonflächen entstehen. Oder das Gebilde mit dem schwenkbaren Metalltrichter und den Saiten. Zufällig besuchte Ende der siebziger Jahre der Musiker und Kommunikationswissenschaftler Romain Pomedio das Atelier mit einer Gruppe autistischer Kinder – und hörte nur noch, wie sie unbefangen mit den seltsamen Sound-Geräten spielten. Mit einfühlsam viel Zeit zum Sehen und Hören zeigt der Film eine Welt, in der selbst kleinste Gesten Bedeutung haben. Die kleine Estelle spielte auf einmal ohne Romains helfende Hand an dem Trichter-Teil, und Christoph, der auf alles erst einmal draufklopfte, gewann so erstmals ein Gefühl von Räumlichkeit. Statt dies pädagogisch zu zerreden, vertraut Marion Schmidt einfach dem fröhlichen, immens neugierigen Naturell der „Patienten“. Kunst ist Leben, Lebenskunst: Auf „Die Reise“ ging mit dreißig erstmals der blinde und taube Australier Billie Sinclair. Er empfindet sich gar nicht als handicaped person – im Gegenteil: Seine sinnliche Welterfahrung per Geruch und Berührung ermöglicht ihm besonders einfühlsame Erfahrungen: Billie, inzwischen rüstige 74, läßt sich den scharfen Wind der Achterbahn um die Nase wehen, schwimmt, läuft durch japanische Straßenschluchten. Auch das kein um Betroffenheit buhlender Film, sondern eine lebensfrohe Momentaufnahme, die deutlich macht, wie inhuman eigentlich die nur auf Verständnis zielenden Dokumentationen sind – als ob ein fremdes Verhalten generös entschuldigt werden müßte. Als ob es um Dummheit ginge, wie bei Grace und Virginia – zwei Schwestern aus San Diego. Sie verweigerten sich dem deutsch-englischen Sprachbabylon ihrer Familie, konterten das Etikett „geistig behindert“ und ihre Vernachlässiung; konstruierten sich eine eigene Sprache, nannten sich „Poto und Cabengo“. Wissenschaftler staunten, und Godard-Mitarbeiter Jean- Pierre Gorin drehte eine filmische Arbeit über „Sprache und Verweigerung“. Zum Abschluß gibt es „Azart“ – ein geometrisch-farbliches Alphabet von niederländischen und belgischen Künstlern. Das Betthupferl serviert Gerd Fröbe: „Fisches Nachtgesang“ von Christian Morgenstern. Dieter Deul