Thesen und Temperament

„Des Lebens wilder Kreis“ von Christian Kaden denkt Wagner, Musik aus Neuguinea und thüringische Hirtensignale beherzt zusammen  ■ Von Frank Hilberg

Selten einmal kommt ein lesewilliger Musikbegeisterter mit zufriedener Miene aus einem Buchladen, Druckerzeugnis in der Tasche, Vorfreude im Gemüt. Ah, endlich ein Buch, das nicht wieder die kursierenden einhundertfünfundzwanzig schönsten Musiker- Anekdoten wiedererzählt und zu neuer Erkenntnis aufgießt; auch kein Werk eines Literaten, Politikers oder Theologen, der längst schon einmal über seinen Lieblingskomponisten sich auslassen wollte, und jetzt, da dieser dreihundertmaligen Todestag feiert, die Chance ergreift, seine Vorabendgedanken in Umlauf zu bringen.

Überhaupt, wie wenig Musikbücher es gibt, die nicht einem genialen Pianisten, einer verrückten Diva oder einem unsterblichen Komponisten gewidmet sind, sondern einem Thema! Hier haben wir eines. Titel: Des Lebens wilder Kreis. Untertitel: Musik im Zivilisationsprozeß.

Zunächst, das sei zugegeben, blinkten alle Alarmlichter bei der Skeptikerfraktion in der Nebenhirnrinde: Vorsicht, da will einer aufs Ganze gehen, will Musik, Leben, Welt und Geschichte in großer Gesamtschau zusammenbinden. Das wird gewiß ein haltloses Plaudern, garniert mit ein paar Nebenverweisen auf Opus 111, einem viertaktigen Notenbeispiel und einem der nicht mehr wegzulassenden Apfelmännchen.

Dem ist nicht so. Zwar behandeln die umfangreichen Beiträge des Buches von Christian Kaden Themen, die von den Gesängen der Kaluli auf Papua-Neuguinea über gotische Musik hin zu Richard Wagner (und zum Danach, zum Heute, zur populären Musik) reichen. Aber es ist doch keine Gedankenschnipselsammlung. Was bei der ersten Durchsicht wie eine Kompilation von Aufsätzen erschien, ist doch zum Buch gefügt – ein Resultat von Kadens Fähigkeit, Phänomene in einen großen Zusammenhang einzuordnen und von dort Fäden zu Detailfragen zu spinnen, mitunter so raffiniert, daß im Gedankengewebe Entlegenes verbunden scheint.

Improvisation

Greifen wir zu einem Beispiel. „Improvisation“ ist ein Thema, zu dem sich ein Autor schon einiges einfallen lassen muß, um nicht den immergleichen Sud unausgegorener Meinungen zu wiederholen. Kaden räumt zunächst einmal mit einigen Third-hand-Gedankenmodellen auf, etwa der beliebten Gegenüberstellung von Improvisation und Komposition, die dann als Spontaneität versus Reflektiertheit oder Freiheit versus Konstruktion zum „Wir wissen ja, wie's ist“-Kopfnick-Reflex führen soll. Was die Vergangenheit betrifft, so werden oft die nicht ausnotierten Teile von Kompositionen mit Improvisationen gleichgesetzt, etwa der aus dem Stegreif zu spielende Generalbaß oder die Verzierungstechniken des Barocks. Ein Trugschluß, denn, so Kaden, „ihr Ziel ist es nicht (oder nur zum geringsten Teil), aus dem Augenblick heraus Entscheidungen zu treffen, sondern ein bereits Vorentschiedenes, zu starrer Lehre Kondensiertes in die Wirklichkeit des Augenblicks hineinzustellen. Weniger die schöpferische Aktion als vielmehr der vollziehende Akt, nicht das Wählen unter Alternativen, das Abspulen des lange schon Alternativlosen gibt ihnen das Gepräge“.

Ein Befund, der auch auf das Paradepferd der Improvisation, den Jazz nämlich, anzuwenden ist. Abgesehen von minderbemittelten Eleven, die transkribierte Soli großer Meister notengetreu auf die Bühne bringen (betrügerisch, aber nicht ungewöhnlich), erfinden auch die Chefs nicht stets alles neu, sondern bedienen sich bewährter Motivvorräte, Strukturierungsregeln und Gestaltungsgerüste. Und das nicht aus Verlegenheit, sondern weil anders der Musik kein Sinn einzublasen ist. Ohne ein Minimum an erfülltem Erwartungshorizont läßt sich kein intelligenter Gedanke nachvollziehen, ein Umstand, dem auch der Free Jazz nicht entgeht, wie zu beweisen wäre.

Kaden versucht daher, den „Geist des Improvisierens“ auf andere Weise zu fassen. Wenn die Komposition, das notierte Werk, das Merkmal des So-und-nicht-anders trägt, ist die Improvisation vom So-und-auch-anders geprägt, denn „wer sich improvisatorisch verhält, musiziert gleichsam auf Widerruf. Er trifft seine Wahl (sonst brächte er nie einen Ton heraus), aber er behält vor Augen und Ohren, daß es eine Wahl ist und daß er beim nächsten Mal andere Möglichkeiten ergreifen kann. Improvisation bleibt im Unbeendeten, Unvollendeten; sie lebt, sich selbst relativierend, in und mit Variabilitäten, nicht jedoch als einem Makel, sondern als ihrem Ideal“.

Um trotz aller Plausibilitäten nicht im bloßen Behaupten zu verweilen, schließt Kaden eine Fallstudie an, die, etwas ungewöhnlich, Hirtensignale zum Weideaustrieb aus dem Thüringischen Wald (daß es so etwas noch gibt!) zum Gegenstand hat. Anhand zahlreicher Aufnahmen läßt sich zeigen, daß die verwendeten Floskeln teils in sehr stabilen, teils in sehr lockeren Verknüpfungen auftreten. „Über weite Strecken tastet sich der Spieler an festen Konfigurationen entlang; sie sind in seinem Gedächtnis als Gestalt-Einheiten eingegraben, und bereits das Erscheinen ihrer Anfangselemente legt alle Weiterungen fest.“

Demgegenüber gerät der Hirt an Gliederungsabschnitte, wo tatsächliche Entscheidungen getroffen werden müssen; „hier öffnet sich dem Musiker geistige Fernsicht, sind Fortsetzungen nach allen Himmelsrichtungen denkbar – so oder völlig anders“. Und vor diesem Horizont gelangt Kaden zu einer soziologischen Deutung, in der musikalische Struktur und soziale Struktur korrespondieren.

Kommunikation

Kürzen wir ab: Musik ist ein Medium der Kommunikation, und der Umgang mit diesem Medium gibt Aufschluß über soziale Verhaltensweisen. „Wenn Dickköpfe, durch Zufall oder vorsätzliche Übung, genau die gleiche kognitive Linie treffen, will sagen, wenn sie einer Meinung sind, ein Lied gemeinsam singen, eine Hymne – dann gehen sie ineinander auf und sinken einander ans Herz. Das ist keine ,echte‘, wechselwirkende Kommunikation; es ist Kommunikation eher als ,Kommunion‘ oder (was weniger verfänglich klingt) als ein Einigwerden, als Unifikation.“ Solch einer fixierenden Musikform steht eine interaktive Form gegenüber, eine, deren höheres Maß an Wahlmöglichkeiten und an Flexibilität ihrer Strukturen die Beteiligten nicht auf Positionen ein für allemal festlegt, sondern Mittel zur Hand gibt, den musikalischen Verlauf gemeinsam zu gestalten.

Soviel zur Improvisation, eines von elf Themen. Inhaltlich ist dieses Buch hochkomprimiert – und dennoch in erstaunlich elegantem Stil geschrieben. Wer etwas Süffig- Andächtiges für den Nachttisch sucht, ist mit ihm schlecht beraten, belohnt hingegen, wem an wohl durchdachten, unkonventionellen Thesen liegt, die obendrein durch gründliche Studien gerechtfertigt sind. In einem Plapperfach wie der Musikessayistik ist das wahrlich kein Regelfall.

Christian Kaden: „Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozeß“. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1993. 248 Seiten, 38 DM