In weiter Ferne so nah

High-noon in Karlsruhe: die Verfassungswächter entscheiden heute mittag um zwölf, ob Deutschland dem Maastricht-Club beitreten darf. Wahrscheinlich darf Deutschland. Doch schon jetzt bröckelt die Vision vom harmonisch geeinten Europa.

Die Ersten werden die Letzten sein. Keine Regierung hat vor zwei Jahren so sehr auf einen nächsten Schritt zur Europäischen Einheit gedrängt wie die deutsche. Bei der Umsetzung des Maastrichter Abkommens ist Deutschland nun Schlußlicht. Elf andere EG-Staaten haben ihren Maastricht-Beitritt längst rechtswirkam erklärt.

Heute mittag um zwölf Uhr – High-noon – wird das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVG) darüber urteilen, ob der Vertrag von Maastricht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Zur Urteilsverkündung werden CSU-Bundesfinanzminister Waigel (ganz sicher) und FDP-Außenminister Klaus Kinkel (nicht so sicher) anreisen.

Gespannt schaut Bonn auf Karlsruhe: Halten die acht Verfassungshüter eine Volksabstimmung für notwendig? Oder reicht ihnen das Zustimmungsgesetz, das Bundestag und Bundesrat im Dezember 92 verabschiedet haben?

Gegen dieses Zustimmungsgesetz wurden 18 Verfassungsbeschwerden eingereicht. Drei hatte der zuständige Zweite Senat beispielhaft ausgewählt und Anfang Juli für zwei Tage eine mündliche Verhandlung einberufen. Beschwerdeführer sind einmal der Münchner Rechtsanwalt Manfred Brunner (FDP), früher Kanzleichef des EG-Kommissars Martin Bangemann, und der Bonner Ministerialbeamte Hans Stöcker. Brunner fürchtet, daß durch die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) auf Deutschland weitere Transferzahlungen an die ärmeren EG-Partnerländer zukommen würden.

Außerdem treten vier Europa- Abgeordnete der Grünen – Wilfried Telkämper, Hiltrud Breyer, Claudia Roth und Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf – gegen die Maastricht-Verträge auf. Sie befürchten, daß durch Kompetenzverlagerungen von den deutschen Gesetzgebungsorganen auf Institutionen der Europäischen Gemeinschaft das ohnehin bestehende Demokratiedefizit weiterhin verschärft, die Mitwirkungsrechte der Bürger damit ausgehöhlt würden.

Damit würden Rechtsgrundsätze wie Volkssouveränität, Föderalismus, Gewaltenteilung und Demokratie, denen im Grundgesetz „Ewigkeitswert“ zuerkannt werde, verletzt. Wenn überhaupt, könnten derartige Veränderungen nur durch eine Volksabstimmung herbeigeführt werden.

Bis wenige Tage vor dem Verkündungstermin hat der Zweite Senat unter Vorsitz von Ernst Gottfried Mahrenholz beraten. Daß die Richter den deutschen Beitritt zu Maastricht verhindern, gilt als unwahrscheinlich. Nach der zweitägigen Anhörung im Juli jedoch glauben Bonner Europapolitiker, daß die Richter der Bundesregierung auf dem Weg zur europäischen Integration einige vom Grundgesetz vorgezeichnete Wegweiser aufstellen werden.

Unabhängig davon, ob auch für Deutschland – nach Großbritannien und Dänemark – Ausnahmeklauseln in den Vertrag eingefügt werden müssen, rückt die europaweite Umsetzung des Maastricht- Vertrages de facto in immer weitere Ferne. Nur Luxemburg erfüllt die Konvergenzkriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion.

Wie sieben Staaten bis Ende 1996 ihre Haushaltsdefizite soweit wie nach dem Vertrag nötig abbauen können, weiß niemand. Und der gemeinsamen Eurowährung ist mit dem Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems (EWS) in diesem Sommer die Grundlage entzogen. Das System der festen Wechselkurse im EWS war die Voraussetzung für eine gemeinsame europäische Währung.

Weder in der Wirtschaftspolitik noch auf anderen Politikfeldern bewegen sich die EG-Länder heute aufeinander zu. Nicht einmal in der wenig komplexen Frage, wo denn nun die Europäische Zentralbank gebaut werden soll, konnten sich am vergangenen Wochenende die EG-Finanzminister einigen – dabei soll ihr Vorläuferinstitut im Januar die Arbeit aufnehmen.

In der Außen- und Sicherheitspolitik hat das Beispiel Jugoslawien aufs traurigste gezeigt, wie wenig sich die EG-Regierungen auf eine gemeinsame Politik einigen können. Immer unklarer wird auch, wie während des Vollzugs von Maastricht der Beitritt weiterer Mitgliedsstaaten organisiert werden kann: Sollen die größeren Länder (nach Einwohnerzahl) ein höheres Stimmrecht bekommen? Wie können die EG-Institutionen umgestaltet werden, wenn nach den skandinavischen Ländern, Österreich und der Schweiz auch die ostmitteleuropäischen Länder beitreten sollen?

Maastricht wird vermutlich heute ratifiziert – wie aber die Europäische Union aussiehen wird, steht in den Euro-Sternen. Donata Riedel