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Europäische Klassik – ganz amerikanisch Von Andrea Böhm

Sieht man einmal von dem überdurchschnittlich hohen Risiko ab, ermordet zu werden, ist Washington D.C. eine der angenehmsten Städte in den USA. Alle Behauptungen, es handele sich hier um ein intellektuelles und kulturelles Steppengebiet à la Bonn, Ottawa oder Canberra, lassen sich leicht vom Tisch wischen. Denn hier gibt es eine, im Vergleich zu eben genannten, blühende Musikszene und ein renommiertes Symphonieorchester, das kein Geringerer als Mstislav Rostropowitsch leitet – sowie die Washingtoner Oper samt eigenem Orchester.

Letzteres befindet sich seit über fünf Wochen im Streik. Auf die Bewältigung meines Alltags wirkt sich das nicht weiter aus, weil ich im Alter von zwölf Jahren im Schlepptau meiner Großmutter in der Oper war – und seitdem nicht wieder. Aber die Washingtoner Opernfans mußten herbe Einschränkungen in Kauf nehmen: Zwei Ballettpremieren wurden ebenso abgesagt wie die Inszenierung von Donizettis „Anna Bolena“, obwohl die Tänzer und die Sänger nicht streiken. Aber ohne Orchester wären ihre Darbietungen doch etwas spröde. Damit die Operngemeinde der Hauptstadt nicht ganz auf Entzug gesetzt wird, greift man seit fünf Wochen zu einer Tonbandversion von Andrew Lloyd Webbers Musical „The Phantom of the Opera“. Der Titel spricht in diesem Fall Bände.

Wie bei so vielen Streiks geht es auch hier um Löhne und neue Verträge sowie die beklagenswerte finanzielle Situation des Arbeitgebers: Die meisten Opernorchester in den USA schreiben rote Zahlen. Was den Sreit um die Misere der E-Musik ungewöhnlich macht, ist der Umstand, daß hier um die korrekte politisch-kulturelle Linie – kurz gesagt: um die amerikanische Identität – gefochten wird. Der Dachverband der Musikerzunft, die „American Symphony Orchestra League“, findet, daß die US- Symphonieorchester zu „exklusiv, arrogant – vielleicht gar rassistisch“ sind. Mit einem Wort: zu eurozentristisch. Der Dachverband findet, daß in den Konzertsälen von New York, Chicago, Cincinnati oder San Francisco viel zuviel Mozart, Beethoven, Brahms, Haydn und Tschaikowski ertönen. Ein bißchen mehr amerikanische Komponisten, ein bißchen weniger „Meisterstücke“ aus dem angestaubten europäischen Notenvorrat des 18. und 19. Jahrhunderts, ein bißchen mehr Pepp, so der Verband, und die Massen, deren musikalische Sozialisation eher durch Ice-T, Whitney Houston oder James Brown geprägt wurde, strömen in die Konzertsäle und lösen das Finanzdilemma. Konkret fordert die „American Symphony Orchestra League“, die Orchestermitglieder sollten sich ein paar tiefergehende Gedanken über ihre Rolle in der Gesellschaft im allgemeinen und über ihre drögen Darbietungsformen im besonderen machen. Ravels „Bolero“ zum Beispiel könne man durch ein paar Video-Gimmicks auf einer Leinwand aufmöbeln. Solche Ideen kann man genüßlich-gruselig weiterspinnen. Mozarts „Zauberflöte“ ließe sich, etwas gestrafft, mit Techno-Rhythmus unterlegen und als Video auf den Markt bringen. Zu Beethovens Neunter könnte der Dirigent wie weiland Michael Jackson im Footballstadion aus Nebelwolken emporschweben. Rostropowitsch wird das vermutlich nicht mehr mit sich machen lassen, aber was soll's: Dies ist ohnehin seine letzte Saison in Washington.

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