Die Tennis-Tour frißt ihre Kinder

■ Sechs der zehn besten Tennisspielerinnen sind derzeit verletzt, nur Monica Seles hat ein Alibi / Die Jagd nach Ruhm und Dollars läßt die Knochen splittern

Filderstadt (dpa) – Die Verletzungsmisere in den Top Ten des Frauentennis hat die Diskussion über die Belastungen der Profitour neu entfacht. Sechs Spielerinnen der besten Zehn sind derzeit außer Gefecht, die Auswirkungen machen sich auf vielen Ebenen bemerkbar. Den Turnieren fehlen die Stars, selbst Traditionsveranstaltungen wie das Turnier in Filderstadt kämpfen mit nie dagewesenen Besetzungsproblemen. Zuschauer, Veranstalter und Sponsoren müssen mit weniger großen Namen zufrieden sein. Die Women's Tennis Association (WTA) kann ihre Zusagen nicht einhalten und muß beträchtliche Summen für Konventionalstrafen aufbieten. Vergangene Woche in Zürich waren das 75.000 Dollar für jede gemeldete Top-Ten-Spielerin, die nicht antreten konnte.

Die WTA hätte derzeit gute Gründe, mit der wöchentlich erscheinenden Weltrangliste auch die aktuellen ärztlichen Bulletins zu veröffentlichen. Steffi Graf, die Nummer eins, ist wegen Knochenabsplitterungen im Fuß außer Gefecht. Monica Seles (Nr.4) leidet noch unter den Folgen des Attentats von Hamburg und hat dieser Tage erst wieder mit leichtem Training begonnen. Gabriela Sabatini (6) hat eine Entzündung im Schultergelenk, Mary Joe Fernandez (7) erholt sich von einer Operation, Jennifer Capriati (9) laboriert an Knochenabsplitterungen am Ellbogengelenk, und auch Anke Huber (10) fühlt sich „nicht hundertprozentig fit“.

„So eine Situation“, sagte Filderstadts Turnierdirektor Michael Uhden, „hat es noch nie gegeben. Das ist ganz sicher auch eine Folge von Überbeanspruchung.“ Es gebe einfach zuviele Turniere. „Als wir angefangen haben, war es nicht einmal die Hälfte“, erinnert er sich. Zudem lassen sich die Topspielerinnen des Geldes wegen gerne auf zusätzliche Schaukämpfe ein. Nun steht Uhden vor der Situation, daß sein 375.000- Dollar-Turnier viel schlechter besetzt ist, als es die „commitments“ der WTA garantieren. Damit stehen ihm Entschädigungszahlungen zu, aber freuen kann er sich darüber nicht: „Geld in dieser Größenordnung hilft dem Turnier doch überhaupt nichts.“

Offenbar spüren viele Spielerinnen die Verlockung, unablässig Geld und sportliche Meriten zu mehren, stärker als die Warnzeichen, die sie vom eigenen Körper erhalten. Steffi Graf beispielsweise hat seit Beginn des Jahres kein Turnier schmerzfrei bestreiten können. „Wenn man Paris und Wimbledon gewinnt, ist es doch keine Frage, ob sich das alles lohnt“, erklärte sie. Auch jetzt mußte sie von ihrem Vertrauensarzt geradezu zur Operation überredet werden.

Pam Shriver, die Präsidentin der WTA, wehrt sich natürlich gegen solche Interpretationen. „Es wäre zu einfach zu sagen: Es gibt zuviel Tennis.“ Die 31 Jahre alte US- Amerikanerin glaubt vielmehr, daß 1993 „eben sehr viel zusammengekommen“ sei. Nach dem Anschlag auf die Nummer eins Monica Seles hätten die Top-Ten- Spielerinnen noch öfter antreten müssen als sonst. „Man muß auch sehen, daß Steffi Graf und Mary Joe Fernandez schon sehr lange auf der Tour sind“, warb Pam Shriver um Verständnis. Ansonsten hofft sie auf bessere Zeiten: „Wir werden alle sehr froh sein, wenn dieses schlimme Jahr vorbei ist.“ Matthias Schmidt