Leben in der Hyperinflation

In der Ukraine reicht der Durchschnittslohn nicht mehr zum Überleben / Flucht in Dollar oder Sachwerte kaum ein Ausweg  ■ Aus Kiew Klaus Bachmann

Die Dame hinter dem U-Bahn- Schalter ist unnachgiebig. „Sie sehen doch, daß wir nur zwei pro Person verkaufen“, knurrt sie und tippt mit dem Finger an die Trennwand. Tatsächlich, da hängt ein Schild: Unter Berufung auf irgendeine Verordnung wird ab sofort die Abgabe von U-Bahn-Jetons auf zwei pro Person beschränkt. Unleserliche Unterschrift, verschmierter Stempel, basta. Einmal hin und zurück geht ja noch, dann heißt es wieder eine halbe Stunde in einer Schlange stehen. Das lohnt sich wirklich nur, wenn man mehr als zwei Stationen fährt. Schwarzfahren geht auch nicht, ausgerechnet an diesem Tag ist vor jedem Eingang zur Kiewer U-Bahn ein Polizist postiert. Neben ihm ein junges Mädchen, das von allen, die es eilig haben, 15-Karbowanzen-Scheine entgegennimmt und in eine Glasschatulle preßt. So geht's also auch. Doch was tun, wenn man nur Hunderter hat und die Dame kein Kleingeld herausgeben kann, weil sie ja alles in die Schatulle quetscht? Nur wenn die Schatulle voll ist und der Polizist einen Heben geht, gibt's eine Chance. Doch wer will schon so lange warten.

Erst am Tag darauf wird das Geheimnis der U-Bahn gelüftet. Alle Schlangen wie weggefegt, keine Polizisten und Glasschatullen mehr am Eingang, nur am leeren Schalter hängt ein zerfetztes Plakat: Aufgrund der Verfügung des Ministerrats vom Soundsovielten kostet ein Jeton ab heute 30 Karbowanzen. Das Doppelte, aha. Und weil das vorher bekannt war, so verraten Einheimische, habe sich ganz Kiew die Tage zuvor noch mit billigen Jetons eingedeckt – deshalb die Rationierung, der U- Bahn-Verwaltung ging der Jetonvorrat aus.

Die Ukrainer haben allerdings auch allen Anlaß, selbst noch U- Bahn-Jetons zur Absicherung vor der Teuerung zu nutzen. Denn am gleichen Tag, als der Jetonpreis um 100 Prozent in die Höhe gingen, wurde Brot 500 Prozent teurer. Die Szenen vor den Bäckereien an den Tagen zuvor muß man da nicht beschreiben. Die Kiewer horteten Brot gleich kiloweise, trockneten es, wer eine Kühltruhe hatte, fror es ein.

In den Haushalten der Ukraine wird jetzt wochenlang nur noch von Zwieback á la maison gelebt werden. Glaubt man den offiziellen Statistiken, ißt sowieso keiner mehr Wurst. Die gibt's entweder nicht, oder sie ist so teuer, daß ein Monatseinkommen nur für zwei bis drei Kilo reicht. Ein paar Monate vor der Nummer mit den U- Bahn-Jetons waren einige Berater der großen englischen Consultingfirma Morgan Stanley in Kiew. Sie errechneten, daß ein Durchschnittslohn für täglich einen Leib Brot, einen Liter Milch und achteinhalb Gramm Butter reicht. Vorrausgesetzt, man zahlt weder Miete noch Nebenkosten und trinkt dazu Leitungswasser, was wiederum nur möglich ist, wenn man davon ausgeht, daß die Gesundheitsversorgung wirklich noch kostenlos ist.

Nach der Rechnung von Morgan Stanley kann die Butter auch durch täglich dreieinhalb Gramm importierter Frankfurter Würstchen, 83 Gramm übelster einheimischer Wurst oder täglich vier Eier ersetzt werden. Dann ist sogar noch ein Rest übrig für rationierten Zucker.

Hinzuzufügen ist noch, daß diese Berechnungen vor den jüngsten Preiserhöhungen angestellt wurden und sich außerdem nur auf staatliche Läden beziehen. Natürlich wurden auch die Einkommen etwas an den Preisschock angepaßt. Nicht um 500 Prozent, aber um 80 Prozent – immerhin. Warum die Kiewer noch nicht verhungert sind? Fast jeder hat irgendwelche Nebeneinkommen, vorzugsweise gegen inflationssichere Dollar.

Für Menschen mit höherem Einkommen gibt's noch den Bessarabischen Markt in der Innenstadt, wo alles das zu finden ist, was in den Läden fehlt: von halben Schweinen über ausgehungerte Hühnchen, die infolge ihres plötzlichen Ablebens den Kopf besonders tief hängen lassen, bis zu Trauben und Südfrüchten vom Schwarzen Meer, das nur etwa 600 Kilometer entfernt liegt. Dazwischen geräucherte Fische, Blumen und Räucherschinken.

Die Preise erreichen hier langsam das Niveau der wenigen Devisenläden, und die wiederum liegen bereits deutlich über dem Preisniveau von Berlin – was erklärt, warum die Käufer in Schlangen vor den leeren Läden und nicht auf dem vollen Bessarabischen Markt stehen.

Möglichkeiten, sich vor der schleichenden Enteignung durch die Hyperinflation zu schützen, haben die Kiewer nicht viele: Flucht in die Sachwerte ist eine, deren Effektivität begrenzt ist, weil die Sachwerte begrenzt sind.

Selbst die Flucht in den Dollar taugt nur bedingt. Noch Tage nachdem die Preise für Grundnahrungsmittel in den Himmel kletterten, blieb der Dollarkurs in den privaten Wechselstuben auf dem gleichen Niveau: Angekauft wurde für 9.500 Karbowanzen pro Dollar. Verkauft überhaupt nicht. Schon deshalb ist es schwer, seine Ersparnisse in Devisen anzulegen.

Das tut die Mafia lieber selber, denn die kontrolliert den privaten Devisenhandel in Kiew. Was auch daran zu erkennen ist, daß der freie Handel für Unternehmen an der Kiewer Valutabörse zur gleichen Zeit etwas andere Kurse ergibt: 19.050 Karbowanzen pro Dollar, also etwa das Doppelte. Auch die Banken schröpfen ihre Privatkunden gern: Gekauft wird gerne, verkauft fast nie.

Wer Autofahrer ist, kann sein Geld in Benzin anlegen, dessen Preis inzwischen auf knapp einen halben Dollar pro Liter angestiegen ist. Deshalb stehen potentielle Taxikunden in Kiew gern neben einem vollbesetzten Taxistand und strecken den Daumen in den Wind, um von einem Nicht-Taxler mitgenommen zu werden. Denn die Taxifahrer warten, bis jemand kommt, der ihre horrenden Preise auch bezahlen kann. Benzin ist trotzdem knapp, denn der Staat importiert wie immer zuwenig. Ein Taxifahrer: „Ab und zu gibt's welches an Tankstellen. Aber da muß man die erst abklappern. Also hat man besser seine privaten Quellen.“

Die Experten von Morgan Stanley kamen am Ende ihres Aufenthalts zum Schluß, daß Kiew eine ganz reizende Stadt sei, hübsche Gärten habe und eine Menge netter Einwohner, die bessere Führer verdient hätten. Nach langem, langem Suchen fanden sie auch etwas, was als wirtschaftliche Trumpfkarte in ihren Bericht einfloß: Die Straßen in Kiew seien fast alle asphaltiert und die Stadt verbinde mit dem Flughafen eine richtige Autobahn. Nur eines scheint ihnen nicht aufgefallen zu sein: da fährt niemand drauf.