Jelzins vergebliche Höflichkeit

Die japanischen Ressentiments aufgrund der Kurilenfrage überschatten den Besuch des russischen Präsidenten / Die Öffentlichkeit interessierte sich nur für das eine /  ■ Aus Tokio Georg Blume

Drei Tage lang hatte sich Boris Jelzin redlich bemüht, der japanischen Form und Höflichkeit zu gehorchen. Ob beim Tee mit dem Tenno oder beim Toast mit dem Arbeitgeberpräsidenten – Jelzin lächelte immer und seine steife Figur verbeugte sich bisweilen so tief, wie es sich für einen fremden Gast in Japan gehört. Am Ende aber platzte dem russischen Präsidenten doch der Kragen.

Schon eine gute halbe Stunde lang hatte sich Jelzin am Mittwoch mit dem japanischen Premierminister Morihiro Hosokawa den Fragen der zumeist japanischen Journalisten gestellt, denen nichts anderes im Sinn stand, als die beiden Regierungschefs über den alten Gebietsstreit um die Kurilen auszuhorchen, der Japan und Rußland seit 1945 beschäftigt. Dann brüllte der Russe los: „Haben Sie etwa keine anderen Fragen?“ Jelzin mochte sich wundern, wie drei Tage sorgfältiger Sympathiearbeit für Freundschaft und Zusammenarbeit, für Kriegsopfer und Atomsicherheit, für Gas- und Ölprojekte in Sibirien so spurlos an den japanischen Journalisten vorbeigegangen waren. Doch der Saal schwieg. Dann kam die nächste Kurilenfrage. Schließlich erhob sich Jelzin mit bitterbösem Blick und fauchte sein Publikum an: „Herr Hosokawa und ich hätten ihren Applaus verdient gehabt.“ Doch zumindest die Japaner, die dabei waren, dachten da anders.

Nicht einmal ein mit Stolz als „Tokioter Erklärung“ verlesenes Dokument, das später die Unterschrift der beiden Landesführer trug, konnte die mürrische Gastgebernation vom Lohn ihrer Gastfreundschaft überzeugen. Dabei handelte es sich doch immerhin um das erste Stück gemeinsamer politischer Willensbekundung zwischen Japan und dem neuen Rußland. Doch die Stimmung war eben so, daß es die tonangebende Zeitung in Tokio Asahi Shinbun gestern für nötig empfand, unter den jeden Tag sorgfältig ausgewählten Leserbriefen den eines 60jährigen Lehrers zu drucken, der Jelzin einen Diktator schimpfte, welcher die russische Demokratie in den Tod treibe. So paßte auf einmal auch der Großaufmarsch rechtsradikaler Lautsprecherwagen ins Tokioter Stadtbild, die seit Montag pausenlos gegen den Jelzin-Besuch demonstrierten.

Premierminister Morihiro Hosokawa hingegen, dessen neue Partei erst nach Ende des Kalten Krieges gegründet wurde, erschien während der letzten Tage als einziger Freund des russischen Präsidenten. Als Vorsitzender der G-7-Gruppe der reichsten Industriestaaten wollte Hosokawa auch den westlichen Partnerländern zeigen, daß Japan seine Boykotthaltung gegenüber der russischen Regierung aufgegeben hat und die Hilfsmaßnahmen der G-7-Gruppe für Rußland bereitwillig unterstützt. Nur vertrug sich Hosokawas Haltung kaum mit dem übrigen Empfang. Kühl und trocken fertigte Arbeitgeberpräsident Gaishi Hiraiwa die Bitten seines Gastes um mehr Investitionen ab. Statt von neuen Chancen sprach Hiraiwa nur von „Problemen, wie die ungenügende Infrastruktur, das unangemessene Rechtssystem, die unklare Bankkontoführung“ und so weiter. Jelzin verbeugte sich um so tiefer. Warum hatte sich der russische Präsident unter solchen Umständen zur großen Entschuldigungsgeste für die Behandlung der japanischen Kriegsgefangenen nach dem Zweiten Weltkrieg in Sibirien aufgerafft? Dreimal, zuerst beim Tenno, dann beim Regierungschef und schließlich öffentlich vor der Arbeitgeberversammlung entschuldigte sich Jelzin für die „unmenschlichen Taten“ an den damals 600.000 japanischen Kriegsgefangenen. Die meisten Unternehmer zweifelten dennoch am Neuaufbruch, nachdem sie Jelzins Ansprache schweigend gelauscht hatten. „Moskau schuldet unseren Unternehmen 1,6 Milliarden Dollar“, grummelte Yohei Mimura, Ehrenvorsitzender des Mitsubishi Handelshauses. „Unter diesen Voraussetzungen lassen sich doch keine weiteren Geschäfte machen.“

Den größten Erfolg seiner Japan-Reise feierte Boris Jelzin deshalb gestern abend bei seiner Ankunft aus Tokio in Moskau. Denn auch nach drei Tagen Abwesenheit war die Lage in Rußland stabil. Jelzin aber war längst zu Hause, da beschäftigte die Abendmoderatoren im japanischen Fernsehen immer noch die eine, alte Kurilenfrage. Zum Losbrüllen?