Ein Parlament voller Agrarlobbyisten

■ Viele französische Abgeordnete verdanken den Landwirten ihr Mandat

Paris (taz) – „Ein psychologisches Problem“, so lautet noch eine der freundlichsten Erklärungen, die im Ausland über die französische Sturheit im Agrarstreit kursieren. Andere Kommentatoren halten die Weigerung der Regierung unter Edouard Balladur, das Blair-House-Abkommen zu akzeptieren, für „irrational“, „verrückt“ oder gar „hysterisch“. Schließlich gehen über 70 Prozent der französischen Agrarexporte in EG-Länder und fallen daher gar nicht unter den Kompromiß zwischen USA und EG, der vor allem eine Verringerung der subventionierten EG-Agrarexporte um 21 Prozent vorsieht.

Doch die Machthaber in Paris sind derart in innenpolitischen Zwängen gefangen, daß wirtschaftspolitische Argumente für sie wenig Gewicht haben: Balladur muß fürchten, daß seine Regierung strauchelt, falls er zu offensichtlich vor dem Druck der USA und der europäischen Partner kapituliert, auch wenn nur sechs Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft arbeiten.

So zwangen die Franzosen den EG-Außenhandelskommissar Leon Brittan zu Nachverhandlungen mit seinem US-Kollegen, dem Hardliner Mickey Kantor, zwangen – gegen seine eigene Überzeugung. Erschwert wurde Brittan die gestrige Verhandlungsrunde in Brüssel zusätzlich durch einen neuen Vorstoß aus Frankreich, einzelne, besonders heftig umstrittene Sektoren wie die Landwirtschaft aus den Gatt-Verhandlungen auszuklammern, um für weitere Agrarverhandlungen Zeit zu gewinnen. Er verstehe gar nicht, wie das gemeint sei, versuchte Brittan vor seinem Treffen mit Kantor die neue Hürde aus Frankreich zu umgehen.

Daß Frankreich den Affront wagt, gegen den bisherigen Konsens aller 116 Gatt-Staaten ein „Gatt-light“ überhaupt vorzuschlagen, zeigt, wie groß die Macht der Bauernvertreter über die Regierung ist. Für zahlreiche Abgeordnete der rechten Mehrheitspartei RPR war es selbstverständlich, am 20. September – als sich die EG-Außen- und Landwirtschaftsminister trafen – gemeinsam mit den Bauern vor den Präfekturen zu demonstrieren. Denn in den ländlichen Wahlkreisen bestimmen die Bauern die Abgeordneten. Die konservativen Politiker, von denen viele erstmals einen Sitz in der Nationalversammlung erobert haben, fühlen sich moralisch zur Solidarität mit ihrer Basis verpflichtet.

Auf dem Land seien die Sozialisten bei den März-Wahlen vor allem deshalb geschlagen worden, „weil sie die neue EG-Agrarpolitik unterzeichnet haben. Wir dürfen die Bauern jetzt unsererseits nicht enttäuschen“, sagte der südfranzösische RPR-Abgeordnete Jacques Godfrain.

In der Parteizentrale und im Landwirtschaftsministerium laufen bei allen wichtigen EG-Treffen die Telefone heiß: Die Abgeordneten beknieen die Regierung, bei den Verhandlungen über die europäische Position bei den Gatt-Gesprächen nur ja nicht weich zu werden.

Bei genauem Hinsehen gilt die Wut der Bauern in erster Linie der EG-Agrarreform von 1992, die den Subventionsabbau bereits vorwegnimmt. Denn das Blair-House- Abkommen (das in Frankreich stets nur „Vorabkommen“ genannt wird) geht nur geringfügig darüber hinaus. Opfer der Liberalisierung sind nach einer Studie des Landwirtschaftsministeriums vor allem die großen Getreidebauern: Preissenkungen und Flächenstillegungen könnten ihr Einkommen bis zu einem Viertel verringern, während Familienbetriebe nur geringe Einbußen zu befürchten haben. Doch die Realität sieht anders aus: „Für die 100.000 französischen Agrarmanager macht der landwirtschaftliche Umsatz meist nur einen kleinen Teil ihres Einkommens aus“, sagte der Wissenschaftler Bernard Kayser der Tageszeitung Liberation. „Die rund 500.000 Familienbetriebe müssen jedoch schon jetzt eine Krise beim Obst und Gemüse, Wein und Rindfleisch bewältigen. Wenn ihre Einkünfte auch nur geringfügig abnehmen, können sie gezwungen sein, ihren Betrieb aufzugeben.“

Genau das fürchtet die Pariser Regierung. Denn anders als in Deutschland ist der ländliche Raum hier von der Agrarwirtschaft abhängig. Die französische Wirtschaft ist so strukturiert, daß sich Industriebetriebe um die Städte konzentrieren. Wer seinen Hof aufgeben muß, ist gezwungen, ganz wegzuziehen, um eine Arbeit zu finden. Selten ist es möglich, den Hof im Nebenerwerb zu betreiben. Kein Wunder, daß bedrohte Bauern da auf die Barrikaden gehen.

Die Abwanderung der Bauern hat schon in vielen Gebieten – wie etwa dem Zentralmassiv – zur Verödung geführt, denn auch Dienstleistungsbetriebe und Teile der Verwaltung ziehen fort. Zugleich nehmen die sozialen Probleme in den Ballungsräumen zu. Deshalb verteidigt jede französische Regierung politische Maßnahmen, die dazu beitragen, daß das ganze Land bewohnt bleibt. Bettina Kaps