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Modellversuch ohne Versuchskaninchen

■ Gestern an der Uni Bremen feierlich eröffnet: Neuer Studiengang „Pflegewissenschaft“

Damaris Georgi hat ihre Chance: die 28-jährige examinierte Kinderkrankenschwester, die in einem sozialpsychiatrischen Altenwohnheim in Oberneuland arbeitet, kann jetzt Karriere machen. Sie hat, obwohl sie kein Abitur hat, einen Studienplatz an der Uni Bremen bekommen. In einem funkelnagelneuen Fach namens „Pflegewissenschaft“. Gestern wurde der neue Studiengang in einer kleinen Feierstunde vor etwa 60 Gästen aus der Taufe gehoben.

„Das ist eine typisch universitäre Antwort auf ein gesellschaftliches Problem“, erklärte der Konrektor für Lehre, Jörg Berndt, den Neustudentinnen (ca 85% weiblich). Er hob damit auf den vielberufenen „Pflegenotstand“ ab, der teilweise ein Problem des Berufsbildes ist. Die Krankenschwester verdient schlecht, arbeitet dafür im Schichtdienst und hat jenseits der Stationsschwester fast keine Qualifizierungsmöglichkeit. Letzteres will die Uni Bremen mit ihrem in Westdeutschland einmaligen Universitäts-Studiengang ändern.

Mit dem gestrigen Tag beginnt zunächst ein zweisemestriges „Propädeutikum“ (Vorbereitungsstudium) für StudentInnen ohne Abitur, das zur Fachhochschulreife führt. Am Ende kommen „BerufsschullehrerInnen im Fach Pflege“ heraus, für die allerdings ein Beruf noch erfunden werden muß. Denn noch geschieht die Ausbildung des Pflegepersonals, wie die Initiatorin des Studienganges, Prof. Helga Krüger, betont, „innerbetrieblich“, d.h. z.B. im Krankenhaus.

In jeder Hinsicht orientiert sich die junge Pflegewissenschaft an den USA, wo schon zu Beginn des Jahrhunderts das Fach an einer Universität studiert werden konnte. 1943 kam das erste umfassende pflegewissenschaftliche Werk heraus. Frau Krüger: „Wir müssen 50 Jahre aufholen.“ Ein glatter Transfer aus den USA ist allerdings durch das vollkommen andere Bildungs- und Pflegesystem nicht möglich. Insofern betreten die neuen StudentInnen mit ihren Hochschullehrerinnen (zwei Professorenstellen sind noch zu besetzen) Neuland: Nicht nur das Berufsbild, sondern auch die Lerninhalte des Studiums Pflegewissenschaft müssen völlig neu entwickelt werden.

Natürlich besteht für den Studiengang die Gefahr, daß er nur als Sprungbrett in die Untiefen der akademischen Gewässer genutzt wird. Der Modellversuch der Bund-Länder-Kommission brauche Leute aus der Praxis, die beim Aufbau selbstbewußt mitgestalten. So rief er den StudentInnn entgegen: „Sie sind selbst wer! Nicht mehr die subalternen Erfüllungsgehilfen der Medizin!“

Dieses Selbstbewußtsein, so hofft Maria Mischo-Kelling, Mitorganisatorin, Soziologin und gelernte Krankenschwester, führt dazu, daß PflegewissenschaftlerInnen künftig bei gesundheitsrelevanten Diskussionen ihre eigenen Positionen vortragen können, etwa in der Diskussion um die Pflegeversicherung. Derweil denkt Damaris Georgi über ihr Zweitfach nach: Physiologie? Eigentlich träumt sie ja schon länger vom Medizinstudium.

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