Menschen wie du bzw. ich: Die Frau in der Garderobe Von Claudia Kohlhase

Ein Konzert ist ja doch eine rundrum tiefgehende Angelegenheit: Man wandelt in gedämpften Foyers, führt Kleider aus, die einen siezen, und hat im günstigsten Fall den erstbesten Liebsten zur Hand, damit der Kunstgenuß ein geteilter sei.

Dann sitzt man auf unbequemen Stühlen, was aber nicht so schlimm ist, denn Musik trägt einen ja auch aus der kantigsten Wirklichkeit. Also lauscht man entrückt, weil sich das so gehört, und hustet peinlich genau zwischen dem ersten und zweiten Satz, auch wenn man vorher fast erstickt.

Ab und an hält man sich im Geist die Nase zu, weil die alte Dame nebenan soviel Tosca genommen hat; dabei wird gar keine Oper gegeben. Ein Teufelsgeiger spielt was Modernes, daß die Glissandi quietschen und die Pizzicati flirren wie vermutlich Hitze in der Savanne. Aber mit Haydn kommt die Welt wieder in Ordnung; und die kleinen wild wiegenden Figuren auf der Bühne bringen derart die Luft zum Brausen, daß es dein Herz wegfegt, vor allem an den traurigen Stellen. In der Pause gibt es zum Trost ein paar Tropfen Sekt für zehn Mark und dicke Männer in Kummerbünden. Aufgeladen von hundertfach empfindsamer Erbauung summt das Foyer, als wär's ein Intermezzo.

Es kann sein, daß du dich auf einmal umschaust, als hätte dich die ganze stolze Feierlichkeit ausgespuckt. Als fändest du auf einmal, daß Musik mitnichten verbindet. Und dann siehst du sie: die kleine Garderobiere zwischen den Nummernfolgen 678 und 748. Sie sitzt da mit ihren kleinen weißen Haaren und schaut aus großen Augen an dir vorbei, während ihre Hände stricken. Sie schaut vielleicht ins Leere oder zu der schönen Dame in der roten Seidenrobe.

Auf einmal bist du seltsam erlöst von all den außerordentlich tiefen Gefühlen um dich her. Und dank der zehn Tropfen Sekt ist dir etwas Mut zugeflossen, und du lehnst dich wie angelegentlich an den Pfosten neben die Nummernfolgen 678 bis 748. Vielleicht sprichst du dann mit ihr.

Vielleicht sagt sie dir, daß sie grade einen kleinen Tiefpunkt hat: wegen Grippe, sagt sie, und hat verdächtig rote Augen. Du glaubst eher, die Augen liegen daran, daß jetzt auch ihre letzte Tochter aus dem Haus ist. Und daß ihr deshalb so die Decke auf den Kopf fällt, daß sie lieber für 25 Mark pro Abend in einer weißen Schürze zwischen 100 kalten Mänteln sitzt. Und die Ungeduld der Leute erträgt, als gelte sie nicht ihr. Sie soll nicht klagen, sagt sie sich immer, die Arbeit ist schön! Schließlich spielt hier doch die Kunst, als wär's das Leben.

Und dann kann sie sich ja auch wie ein Mäuschen das Konzert anhören. Meist muß sie aber am Platz bleiben — bei was Modernem wollen immer welche früher raus. Sie für ihr Teil mag das Moderne, wirklich. Klassik: ist doch unzeitgemäß! Wie Pelzmäntel. Und das Zeitgemäße ist eben zeitgemäß und meistens ja auch gemäßigt, also gar nicht soo schlimm.

Na, aber Hauptsache ist doch, daß es den Leuten gefällt, und nicht, ob ihr. Da freut sie sich nämlich mit. Und ob es dir denn nun gefallen habe bisher, will sie wissen, obwohl doch eben Lutoslawski gegeben wurde. Es war wunderbar, sagst du enthusiastisch, gerade Lutoslawski. Wenn du Glück hast, hat sie da ein bißchen gelacht.