Das Gespenst der Gewalt

Wenn Unionspolitiker zuviel über Fernsehen nachdenken  ■ Von Manfred Riepe

Samstag am frühen Abend auf deutschen Bildschirmen. Die Sat.1-Fußballsendung „ran“ läuft. Thomas Berthold steigt hoch zum Kopfball, trifft aber nur die Schläfe seines Teamkollegen, des schwäbischen Hackentreters Guido Buchwald. Die Superzeitlupe zeigt es uns noch einmal genau: Buchwald blutet wie ein angestochenes Schwein. Dann folgt die Unterbrecherwerbung, und Nestlé wirbt für einen neuen Ketchup...

Damit soll nach dem Willen von Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident von Bayern, München, jetzt Schluß sein: Gewaltdarstellung und Thomas Berthold erhalten die rote Karte. Das Werbeumfeld – gemeint sind die mager gefüllten Programminseln zwischen den Spots – habe sich dem Auftrag des (Privat-)Rundfunks, Werbebotschaften zu übermitteln, anzupassen. Gewalt und Werbung, so stand es bereits in Focus, schließen einander aus: Jan Grell, Geschäftsführer der Agentur Springer & Jacoby, bescheinigte „Unverträglichkeit“ von primitiv-brutalen Programmen und den Produkten seiner Kundschaft: Benz-Limousinen. Den „RTL-Notruf“ betätigen pro Woche zwar fast vier Millionen Zuschauer. Doch die soziale Struktur der potentiellen Kundschaft paßt den Werbetreibenden überhaupt nicht: „Da ist man“, sagt Procter-&-Gamble-Sprecherin Christel Karesch, „oft nicht einmal bereit, übers Waschen nachzudenken. Geschweige denn über die Öko-Nachfüllpackung.“

Mit der sozialen Struktur der potentiellen Käuferschaft, die den Werbetreibenden nicht behagt, ist im Klartext gemeint: Bei Olav Kracht („Explosiv“) sitzen nur Prols vor der Glotze. Nicht, daß dem tatsächlich so wäre. Doch stellt man sich die Wunschvorstellung der Werbetreibenden als verwirklicht vor, so ist werbefinanziertes Privatfernsehen nur für ein kaufkräftiges Publikum der oberen Mittelschicht gemacht. In der erwünschten sozialen Struktur des Privatfernseh-Zuschauers spiegelt sich damit exakt die Struktur des sozialen Abbaus eines Jahrzehnts christlich-liberaler Regierungspolitik.

Gewaltdarstellungen vertragen sich nicht mit der Werbung: Prima, denke ich mir, die Unterbrecherwerbung habe ich ohnehin so dringend gebraucht wie eine geplatzte Mülltüte am Morgen nach einer durchzechten Nacht. Doch meiner leichtfertigen Absage an die Werbung begegnet Edmund Stoiber mit argumentativer Schärfe: „Ohne Werbung gibt es keinen privaten Rundfunk.“ Aber – wozu brauche ich den privaten Rundfunk? „Das Ziel, die ,Monopolanstalten‘ ARD und ZDF durch Programmvielfalt zu entautorisieren, wurde erreicht“, schrieb Edmund im Editorial des letzten Gong.

Gewiß, RTL ist inzwischen Marktführer. Aber, Herr Dr. Stoiber, vermittels welcher ominösen „Programmvielfalt“? Meinen Sie damit nicht exakt jenen Äthermüll, den Sie im Gong so leidenschaftlich kritisieren: „Unsere Gesellschaft kann in die Gefahr einer Zerreißprobe kommen, wenn über bestimmte Massenmedien ständig die Lösung von Konflikten mit Fäusten, Messern und Revolvern propagiert wird.“

Seltsamerweise hat ausgerechnet die Union das Schlachtfeld eröffnet, das sie jetzt kritisiert: In einem heillosen Dauerfeuer („Krieg der Sterne“, „Rambo“, „Steiner, das eiserne Kreuz“) hat das von der Union ermöglichte Privatfernsehen die öffentlich-rechtlichen Anstalten quotenmäßig aufgerieben und zermürbt: „Wir haben Spielfilme gesendet, die vor uns zu Recht keiner gezeigt hatte“, bekennt RTL-Chef Thoma. Und jetzt, da der Programm-Müll seinen Zweck erfüllt hat, die Telemunition bis auf den letzten Schuß verballert ist, kann Edmund Stoiber sich die Hände reinwaschen und die Gewaltfilmflut obendrein noch moralisch verdammen. Was vom Sendestart der Privaten 1984 bis heute als „Programmvielfalt“ galt, ist nach dem Willen des Unionspolitikers jetzt verwerflich.

Die Strategie, nach der das Gewaltprogramm zum telegenen Herpes erklärt wird, hat eine historische Kontinuität. Dieselbe Doppelmoral, die zur Zeit gegen Fernsehgewalt mobil gemacht wird, wurde bereits im Zuge der Videodebatte gegen Horrorfilme aufgeboten. Allerdings erst, nachdem der Markt mit Videorecordern gesättigt war. Der in Deutschland so erfolgreiche Geräteabsatz war selbstverständlich nicht auf die Nutzung des Recorders zum zeitversetzten Fernsehen zurückzuführen. Genau derselbe Pool an Schmuddel-B-Filmen, der gegenwärtig dem Privatfernsehen den Siegeszug gegen die öffentlich- rechtlichen Anstalten ermöglicht, bestimmte zwischen 1978 und 1983 das Video-Verleihprogramm.

Die Argumentation gegen Fernsehgewalt hat gegenüber der Videodebatte allerdings einen leicht verschobenen Akzent. Gegen Video argumentierte die Mafia der Sozialpädagogen mit der konservativen Wirkungsdoktrin der 50er Jahre von der entsittlichenden Verrohung. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Nachdem auch der letzte Hilfswissenschaftler begriffen hat, daß Medieninhalt (Gewalt) und Medienwirkung (sittliche Verrohung) nicht identisch sind – und deswegen Gewaltdarstellung im Fernsehen leider auch nicht für die rassistischen Brandschatzungen gegen Türken verantwortlich gemacht werden kann –, soll nun ausgerechnet die Werbewirtschaft als moralische Instanz angerufen werden: das letzte Kommando.

Stoiber schreibt sich daher die Unverträglichkeit von Gewalt und Werbung auf die Fahnen. Und Renate Schmidt (SPD) steht als Schirmfrau einer Elterninitiative vor, die in Bayern mit wachsendem Erfolg Produkte boykottiert, deren Spots im Gewaltumfeld ausgestrahlt werden. Mit der Gewaltdebatte kommen die seltsamsten Bündnisse zustande.

Insofern Werbung Privatfernsehen finanziert, so die auch von Bundesministerin Angela Merkel für gut befundene Logik der Produkt-Boykott-Bewegung, sei die Werbeindustrie auch verantwortlich für das Programm zwischen den Werbeblöcken: Wenn dem so ist, warum leistet man sich dann überhaupt Sender wie RTL, Sat.1 oder Pro 7 samt Rundfunk-Staatsvertrag? Warum läßt man die Werbeagenturen nicht gleich selbst das Programm machen? Die Strategie der Produkt-Boykotteure, Druck auf die Werbetreibenden auszuüben, damit die diesen Druck wiederum auf die Programmgestalter weiterleiten, bedeutet letztlich die Aushebelung des Rundfunk- Staatsvertrages, der eine Einflußnahme der Werbetreibenden auf das Programm untersagt.

Gipfel der Perfidie ist jedoch, daß der „mündige Fernsehteilnehmer“ nach dem Willen Stoibers dafür Sorge tragen soll, daß die Werbung, die ihn sooo interessiert, im richtigen Umfeld plaziert ist: Weil sie nur dort richtig funktioniert, den Privatrundfunk so weiter stärkt und damit den Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten noch weiter untergräbt. Durch den damit gezielt beabsichtigten Schwund der öffentlich rechtlichen Anstalten werden wir noch weniger kulturell informiert, so daß die Gleichschaltung unserer Hirne mit den Werbebotschaften noch besser funktioniert.

Damit nicht genug. Notorisch desinformierte Journalisten berichten indes landauf landab, die Werbewirtschaft würde von Bundesministerin Angela Merkel unter Druck gesetzt, Spots nicht mehr im Umfeld von Gewalt- und Pornofilmen zu plazieren. Das setzt aber voraus, daß es derartige Filme im Programm überhaupt gibt. Die blutleeren, karnickelerotischen Tirolersex-Klamotten auf RTL sind ungefähr so freizügig wie das „Wort zum Sonntag“. Und die 22 indizierten Filme, die vom 1. August bis zum 20. September laut Auskunft der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu sehen waren, sind um ihre expliziten Gewaltmomente so weitgehend gekürzt, geschnitten, verstümmelt, daß auf 90 Minuten Spielzeit zwei bis drei lange Werbeblöcke passen. Die Privaten sind am allerwenigsten an Gewalt interessiert, sondern an der möglichst reibungslosen Abwicklung ihres Geschäfts. Deswegen schmeißen sie die Gewalt als erstes raus: Gäbe es ein Gesetz, das Sendeanstalten dazu verpflichtet, alle Schnitte, denen sie Filmen unterziehen, bei der Titelnennung mit abzudrucken, so wären die TV-Zeitschriften sofort dick wie Telefonbücher. Tatsächliche Gewaltdarstellung ist daher rein fiktives Produkt einer medien- immanenten Zirkulation von Falschmeldungen. Je weniger Gewalt es jedoch im Fernsehen gibt, desto lauthalser wird ihr Verbot gefordert. Das Gespenst der Gewalt bietet die einzige Legitimation, die Kontrollücke zwischen Film und Video zu schließen. Die noch für dieses Jahr projektierte Einrichtung einer „Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen“ würde keinerlei Gewaltdarstellung im Programm vorfinden. Dafür aber eine Menge anderer problematischer Inhalte...