Du hast keinen blassen Schimmer

Manche Texte sind so kühl, daß man beim Lesen zu frieren beginnt. Wenn Sie sich an Rose Boyts „Geschlechterverkehr“ (im Original „Sexual Intercourse“) begeben, sollten Sie sich warm anziehen, und eine Wolldecke zusätzlich kann auch nicht schaden.

Die Autorin erzählt eine Geschichte, welche die Liebe in ihren merkwürdigsten Verbiegungen zeigt; eine Geschichte, in der ein Kind gezeugt wird, diverse Male ein Geschlechtsakt statthat, ein Hund ermordet und eine Frau überfahren wird. Das Personal ist überschaubar und einander inzestuös zugetan, und nicht einmal die Mutterliebe in ihrer ursprünglichsten Form, der Babyliebe, darf ambivalenzfrei sein: „Ich dachte“, denkt die junge Mutter, „Babys seien verletzlich und zerbrechlich. Mein Baby ist robust. [...] Sie ist zäh wie Schuhleder. Darum habe ich geweint. Ich gerate in Panik, wenn sie nicht aufhören will zu weinen, und ich gerate in Panik, wenn sie stumm in meinen Armen liegt und mich anstarrt. Ich fülle die riesige Lücke ihres Schweigens mit Alpträumen. Ich kann sie nicht verlassen. Ich habe sie am Hals. Was habe ich getan? Sie schaut mich mit ihren klugen wißbegierigen Augen an, als würde sie mir vergeben. Ich weiß, was sie sagen würde, wenn sie sprechen könnte. Sie würde sagen: ,Du hast keinen blassen Schimmer.‘“

Ein ganz und gar merkwürdiges Buch. In Einzelheiten mag man wiedersprechen wollen, aber der zugrundeliegende Horror der Erzählung ist vom ersten Satz an zwingend, so daß man es angespannt zu Ende liest, klamm bis in die Fingerspitzen. Die Übersetzerin, da bin ich sicher, hat sich eine Grippe geholt.

Rose Boyt: „Geschlechterverkehr“. Roman, aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 183 Seiten, gebunden, DM 36.