Der Mahnstein bei den Mülleimern

Güstrow, die Synagoge, der jüdische Friedhof und der Spar-Supermarkt  ■ Von Michael Bodemann

Die Weizenernte ist längst eingefahren auf der Mecklenburgischen Seenplatte, und die Felder sind umgeflügt; einzelne Bäume hängen noch voll mit Birnen und Äpfeln, und die Bürger von Güstrow, wie die von Plau, Lübz und anderen Städten im mecklenburgischen Alltag, renovieren ihre Häuser; auf dem Marktplatz in Güstrow bieten die Stände Pfirsiche, Tomaten, Wurst und Käse; Vietnamesen verkaufen Zigaretten; Touristen schlürfen Tchibo-Kaffee zu fünfzig Pfennig mit einem Stück Kuchen. Dannach gehen sie zum Dom, um Ernst Barlachs „Schwebenden“ zu bewundern, oder zur Gertruden-Kapelle, eine ehemals verwahrloste und baufällige Kapelle, später liebevoll renoviert und heute ein kleines, schmuckes Museum mit Werken von Ernst Barlach inmitten eines alten idyllischen Friedhofs mit Bronzeplastiken verschiedener zeitgenössischer Bildhauer. Des öfteren wird an die Schikanierung Ernst Barlachs durch die Nazis erinnert, selbst der „wechselvollen Geschichte“ seiner Skulptur „Der Schwebende“ wird gedacht; von der wechselvollen Geschichte der Juden allerdings kein Wort.

Ich gehe deshalb also zur „Güstrow-Information“ in der Glevinerstraße 33 und frage nach dem Ort, an dem früher die Synagoge stand. Während ich noch warte, lese ich in einer kleinen Touristenbroschüre, „Künstler, Dichter und Denker wie Ernst Barlach, Georg Friedrich Kersting, John Brinckmann und Uwe Johnson haben den kulturellen Anspruch der Stadt geprägt“, ich lese über das Renaissanceschloß und das Rathaus, sehe mir Güstrows Zeittafel an, die von 1910 direkt zu 1945 springt: und 1945? „Bürger der Stadt sind 45 Jahre bemüht, Wirtschaft und Kultur zu befördern, doch das sozialistische System wirkt kontradiktorisch.“ Und 1989? „Mit der Sanierung der Altstadt als Modellvorhaben wird der mittelalterliche Stadtkern zu einer Attraktion in Mecklenburg werden.“ Nun meine Frage. Die freundlichen und sehr hilfsbereiten Damen fahren sich nervös durch ihr Haar, und meinen, so etwas sollten sie ja eigentlich wissen; sie hätten freilich noch nie davon gehört. Ob ich denn nicht die Gertruden-Kapelle meine und ob ich die „anderen Kirchen“ gesehen hätte? Nein, die Kirchen meinte ich nicht, aber ein Anruf bei einer Dame, die im Rat der Stadt zu arbeiten scheint, löst das Problem: Die Synagoge muß wohl irgendwo im Krönchenhagen gestanden haben. Nun noch schnell die Information über den jüdischen Friedhof, aber hier sind die Damen schnell bei der Hand: Der jüdische Friedhof ist gleich bei dem großen Stadtfriedhof, dort ist ja auch „irgend so ein Mahnmal oder was.“

Ich begebe mich also zunächst in den Krönchenhagen. Eine Straße, nicht weit entfernt vom Markt, in etwas verwahrlostem Zustand, mit mehreren Baulücken und baufälligen Fachwerkhäusern; doch an verschiedenen Stellen wird auch hier fleißig gebaut und renoviert. Den Ort der Synagoge kann ich nicht finden; ich vermute eine kleine Parkanlage und eine Tafel. Die gibt es aber hier nicht. Ich frage zwei ältere Damen. Ja, die Synagoge stand da drüben und wurde irgendwann weggemacht. Wann das war? Sie entsinnen sich nicht mehr genau, wohl 1937, unter der Hitler-Regierung. Ich gehe auf den Platz, neben Krönchenhagen 12, wo die Synagoge gestanden haben soll. Eine andere ältere Dame, die vorbeikommt, bestätigt das. „Aber hier ist der Herr X, der kann Ihnen mehr darüber sagen.“ Herr X, ein überaus wendiger sechzigjähriger ehemaliger Gymnasialmusiklehrer und bildender Künstler, bestätigt, daß auf diesem wilden und verwahrlosten, als Parkplatz benutzten Ort, wo wir jetzt stehen, ehemals die Synagoge stand. Er weiß auch genau, daß sie in der „Kristallnacht“ abgebrannt wurde. Daneben erkennen wir beide das Haus, die Nummer 12, die wohl das Wohnhaus des Rabbiners gewesen sein muß, und angebaut dahinter ein kleines Schulgebäude. Die Fenster beider baufälliger Gebäude sind entweder eingeschlagen oder zugemauert. Keine Tafel, kein Zeichen erinnert an die Geschichte. Dieses Los teilt der Synagogenplatz freilich mit dem leeren Platz schräg gegenüber, auf dem, so mein Informant, ehemals das schönste Bürgerhaus Güstrows stand, das erst vor einigen Jahren, noch zu DDR-Zeiten, abgerissen wurde.

Mit diesen Eindrücken begebe ich mich, dem Hinweis der Damen von der Information folgend, zum städtischen Friedhof. Aber wo ist nun der jüdische Friedhof? Ich treffe auf den Steinmetzen, dessen Werkstätte und Lager am oberen Ende des Friedhofs stehen und der mir die Hand drückt, als hätte ich selbst gerade einen lieben Verwandten verloren. Nein, der jüdische Friedhof ist hier nicht. Aber er weiß, wo er liegt, wenige Leute wüßten das hier; vor einigen Jahren hat er nämlich für diesen Friedhof einen Stein gefertigt. Er bietet sich freundlicherweise an, mich dorthin zu bringen. Nach wenigen Minuten gelangen wir zu einem Supermarkt der Kette Spar, genauer gesagt, zu dessen hinterem Ausgang, mit einem großen Schornstein. Neben einem Fahrradständer mit dem Chappi-Markenzeichen und einem schwarzen Davidstern aus Eisenblech am menoraförmigen Gitter finden wir schnell zum Friedhof: eine kleine hintere Ecke mit ein paar Steinen und jungen Bäumen, alles überwuchert mit Unkraut und verwahrlost, direkt bei der Müllablage des besagten Supermarktes.

„Eigentlich eine Schande, wie das hier aussieht“, meint der nette Steinmetz. Er habe damals den Stein in aller Eile fertigen müssen, innerhalb von zehn Tagen mußte er fertig sein. Eine Woche lang habe er bis nach Mitternacht gearbeitet, alles von Hand. Wann genau das war, daran erinnert er sich nicht. Aber es war noch vor der Wende, weil er ja noch keine Maschinen hatte, und er erinnert sich: Es war schon kalt und dunkel. Ob er denn nicht zur Steinsetzung eingeladen wurde? Nein, die haben ihn noch nicht einmal eingeladen dazu. Ob es denn um den 9. November 1988 gewesen sein könne? (Der sozialistische Einheitsstil und Einheitstext deuten darauf hin: Zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome, angesichts der mißlichen wirtschaftlichen Lage der DDR und des Interesses an diplomatischen Beziehungen zu den USA wurde plötzlich etwas hastig der verfolgten Juden gedacht.) Ja, 1988, da könne es vielleicht gewesen sein. Hergerichtet wurde der Friedhof damals schnell, die fanden auch viele „Knochen“, Gräber müssen übereinandergelegen haben. Man dürfe so etwas eigentlich gar nicht anrühren, meint der Steinmetz. Aber dies – kaum mehr als fünf Grabsteine – sei nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Friedhofs. Der Supermarkt selbst stehe auf Gräbern, und auch unter dem Kopfsteinpflaster lägen Gräber, dort, wo die Mülleimer und die Fahrräder und der „Chappi“-Fahrradständer stehen. „Wirklich eine Schande, so sollte das nicht aussehen“, meint der nette Steinmetz und verabschiedet sich, weil er bei Spar noch schnell einkaufen muß; es ist kurz vor Geschäftsschluß.

Ich fahre weiter nach Plau am See, wo die ehemalige Synagoge, ohne jegliche Markierung, heute eine katholische Kirche ist. Auf dem Weg dorthin überlege ich mir, ob mit dem „Modellvorhaben mittelalterlicher Stadtkern“ und vor allem mit Rücksicht auf die Besucher aus dem Ausland es sich dann nicht auch geradezu anbietet, etwas Jüdisches, ein Mendelssohn- Kulturzentrum oder so, harmonisch ins Stadtbild zu integrieren? Warten wir's ab. Bevor die Athra Kadischa nach Güstrow findet, vergeht vielleicht noch einige Zeit...