Babe Ruth läßt grüßen

Die Toronto Blue Jays und die Philadelphia Phillies bestreiten die World Series im Baseball  ■ Von Andreas Lampert

San Francisco (taz) – Am 5. Oktober war die Welt in Chicago noch in Ordnung. Die White Sox standen nach langen Jahren der Abstinenz wieder einmal in einem Endspiel um die Meisterschaft der American League, eine Stadt fieberte in schwarz und weiß, schleuderte weiße Socken durch die kalte Abendluft und Michael Jordan warf den „ceremonial first pitch“ vor dem ersten Spiel gegen die Toronto Blue Jays. Was sollte da noch schiefgehen, wenn der größte Athlet aller Zeiten seinen Segen gab? Nun, einiges, wie sich später herausstellte: als noch während des Spiels die Gerüchte um Jordans Rücktritt aufkamen, interessierte sich kaum noch jemand für das Schicksal der White Sox.

Zumal sich das Team aus Toronto, immerhin letztjähriger World-Series-Gewinner, als übermächtig zeigte. Die Blue Jays, eine der reichsten Organisationen in der Major League, hatten sich vor und während der Saison zusätzlich mit Superstars aus dem „free- agent-pool“ verstärkt, so daß sie ihre Division ohne größere Schwierigkeiten gewinnen und sich letztendlich auch souverän mit 4:2 in der Serie gegen die White Sox durchsetzen konnten. Größten Anteil verdiente sich dabei ihr Pitcher Dave Stewart. Der 36jährige, der dieses Jahr von den Oakland Athletics nach Toronto übergesiedelt war, blieb erneut in Play- off-Spielen unbesiegt, was seinen Titel als „Mister October“ weiter festigte. Vielleicht hatte sich Stewart seine Nervenstärke einen Abend vor dem entscheidenden sechsten Spiel beim kanadischen Thanksgiving-Essen geholt. Statt wie die meisten seiner Kollegen zu Hause zu bleiben und sich mit Soap-operas und Computerspielen die Aufregung zu vertreiben, traf er bei der örtlichen Heilsarmee- Organisation mit Obdachlosen zusammen, wo man bei Speis und Trank Wurfstrategien diskutierte.

Wesentlich aufreibender ging es bei dem Duell um die National- League-Meisterschaft zu. Hier trafen die als Rabauken des Osten verschrienen Philadelphia Phillies auf die Atlanta Braves. Vor zwei Jahren, als die Braves noch als Underdogs der Nation galten, lagen die Sympathien der meisten Amerikaner bei den Südstaatlern. Mittlerweile jedoch haben sich die Braves, die von einer penetranten Medienpräsenz auf den Fernsehstationen ihres Besitzers Ted Turners selbsterklärt zu „America's Team“ ausgerufen worden sind, mehr und mehr Konfrontation auszusetzen.

Kein Wunder also, daß die Sympathien der meisten Amerikaner nördlich der „Mason-Dixon-Line“ (teilt Nord- und Südstaaten), den Phillies galten. Die Truppe aus Philadelphia, die sich durch jahrelanges Verlierertum manchen dicken Pelz aneignen mußte, hatte dieses Jahr eine ausgezeichnete Saison. Doch erstmals machten sie nicht durch ihr verwegenes Auftreten und Aussehen (übergewichtige, unrasierte, tabakspeiende Vagabunden, die ohne weiteres als Gitarristen bei Gruppen wie Lynyrd Skynyrd oder Molly Hatchet durchgehen würden) Schlagzeilen, sondern mit Schläger, Ball und Handschuh. In der Best-of-seven-Serie mit den Atlanta Braves zeigten sie leidenschaftlichen Siegeswillen und nutzten eine kurzzeitige mentale Schwäche der Braves schonungslos aus.

Nach ebenfalls 4:2 Siegen trifft am kommenden Samstag das „Team voller Charaktere“ aus Philadelphia, das wie ein Relikt aus den Baseballtagen eines Babe Ruth wirkt, als zwischen den Spielen noch reichlich gesoffen und gehurt wurde, auf „Kanadas Stolz“ aus Toronto, um in sieben Begegnungen die World Series auszuspielen. Es wird die letzte Finalserie dieser Art sein, denn im nächsten Jahr haben die Besitzer einer Umstrukturierung der Ligen zugestimmt, die ein neues Play-off-System erfordert. Kein Wunder also, daß die meisten Baseballfans allein schon Babe Ruth zu Ehren auf einen Sieg der Phillies hoffen, wo die Welt noch in Ordnung scheint.