Betr.: "Nasi-Goreng im Wüstental"

Ein geheimnisvolles verschlossenes Land hinter den Bergen, inmitten feindlicher Wüste. So stellte sich das Wüstental Hadramaut bis weit in dieses Jahrhundert für Europäer dar. Im südlichen Jemen, nahe der omanischen Grenze gelegen, galt es lange als unerreichbar. Der Deutsche Adolph von Werde war der erste, dem es 1843 gelang, seinen Fuß in das Tal zu setzen. Als Ägypter verkleidet, wurde er aber schon auf halbem Wege entdeckt. Die Beduinen raubten ihn aus. Er konnte froh sein, mit heiler Haut nach Hause zurückzukehren. Dort glaubte ihm zunächst niemand seine abenteuerliche Geschichte. Erst 50 Jahre später drang der Berliner Professor Leo Hirsch in das eigentliche Hadramaut vor. „Es war ein großer Tag für Shibam. Der erste Franji (Franke – alte arabische Bezeichnung für alles Europäische) nähert sich seinen Mauern“, notierte Hirsch, ganz vom europäischen Kolonialbewußtsein beseelt, an dem Tag, an dem er zum ersten Mal die Hadramauter Stadt Shibam mit ihren berühmten Hochhäusern aus Lehm zu Gesicht bekam. Bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts sollte Hadramaut ein europäisches Abenteuer bleiben.

Selbst lange nachdem die Briten die südjemenitische Hafenstadt Aden besetzt hatten, wagten sie sich nicht ins Hinterland. Sie bevorzugten es, im Tiefflug vom Flugzeug aus das Land kartographisch zu erfassen und die ersten Fotos von den berühmten Lehmstädten Shibam, Sayun und Tarim zu schießen.

Was aus europäischer Sicht als eine „geschlossene Gesellschaft“ definiert wurde, war in Wirklichkeit nach allen anderen Seiten offen. Schon seit Jahrhunderten befanden sich die Hadramauter in einem regen Austausch mit ihren arabischen Nachbarn und den ostasiatischen Ländern Indonesien, Malaysia und Singapur. Auch an der ostafrikanischen Küste gingen sie ein und aus.

In Sachen Geschichte Hadramauts wird man heute schnell an den 75 Jahre alten Ga'afar Al-Saqqaf verwiesen. Er ist selber ein Stück Geschichte. Unweit des Sultanpalastes von Sayun, direkt neben der großen zentralen Freitagsmoschee, hat er vor fünf Jahren sein Büro eröffnet. Hier empfängt er nach eigenen Angaben ausländische Delegationen, Jemenforscher und Orientalisten. Auf einem abgewetzten Sessel sitzend, gibt er bereitwillig Auskunft. Schon vor 1.000 Jahren, das hätten seine Studien ergeben, seien die Hadramautis Richtung Osten ausgewandert und hätten Emirate in Indonesien, Malaysia, Singapur und sogar auf den Philippinen gegründet. Auf den Weg machte sich meist die Hadramauter High Society – die Gruppe der Sadah, die vorgibt, direkt vom Propheten Mohammed abzustammen, und zu denen auch Al-Saqqaf selbst gehört. Sie verbanden ihre Mission, den Islam zu verbreiten, mit allerlei nützlichen, insbesondere geschäftlichen, Dingen. Mit Erfolg: „Das Budget der Hadramauter Al-Kaf- Familie war vor den Zeiten des Öls größer als das der Familie Saud, die später ihre Dynastie in Saudi- Arabien gründete“, merkt Al-Saqqaf selbstbewußt an. Irgendwo kramt er nach längerer Suche einen Stapel alter Schecks aus den Bergen von Papier hervor. Da stellte etwa die Bank von Java im Jahre 1909 einen Scheck in holländischen Gulden aus. Das Geld ging an eine der großen Hadramauter Handelsfamilien.

Vor 50 Jahren, sagt der alte Al- Saqqaf mit wachen Augen, habe er angefangen, diese Dokumente zu sammeln. Als die ersten Orientalisten vorbeikamen und sich für diese Papiere interessierten, da begriff er, daß dies nicht nur gerichtsfähige Urkunden, sondern auch Beweisstücke für die Hadramauter Geschichte sind. Und die, so betont er, waren nicht vom ehemaligen Sultan geschönt worden. Auf den Kathiri-Sultan, der sich bis 1967 mit dem Sultan Qaiti das Hadramaut teilte, ist Al-Saqqaf nicht gut zu sprechen. Der habe nur die Politik der Stämme im Kopf gehabt und wenig Ahnung von Kultur und Geschichte.

Nicht nur Ostasien war das Ziel der Hadramauter Auwanderer, auch die ostafrikanische Küste gehörte zu ihrem unmittelbaren Einzugsgebiet. Vor allem zu Zeiten des Hungers im Wüstental wanderten sie zu Tausenden nach Tansania, Uganda, Somalia und Kenia aus. In diesem Fall waren es aber eher Arbeiter und Kleinhändler, die ihr Glück versuchten. Es war ein einfaches, mit dem Segelboot nach Afrika überzusetzen. Ostasien dagegen konnte nur über Aden mit dem Dampfer erreicht werden. Das war teuer.

So entstand durch Immigration und Wiederkehr eine „multikulturelle Gesellschaft“. Die Pension Al-Kaf, am Rande von Sayun gelegen, gleicht eigentlich mehr einem Jugendclub als einem Hotel. Abends treffen sich die jungen Freunde des „Mannes für alles“ in der Pension „Abdallah Bawazir“. Auf einer Plastikmatte sitzend, neben sich einen Thermokanister mit kühlem Wasser, in der Mitte eine Packung Zigaretten und einen Aschenbecher, versuchen sie hier die Langeweile Sayuns totzuschlagen. Schon allein ihre Gesichtszüge, eine Mischung aus ostasiatischen, afrikanischen und arabischen Einflüssen, spiegeln die vielfältigen Familiengeschichten wider. Als der Grundschullehrer Muhammad Tamimi mein Interesse für solche Geschichten bemerkt, holt er schnell von zu Hause einen Stapel Familienfotos. Leider könne er mir nicht das Familienalbum zeigen, entschuldigt er sich, denn da sei auch die weibliche Verwandtschaft eingeklebt und die dürfe schließlich nicht den Blicken eines Fremden ausgesetzt werden.

Muhammads Großvater war irgendwann einmal in den 20er Jahren mit einem seiner Söhne nach Indonesien ausgewandert. Seine jemenitische Frau und seinen anderen Sohn ließ er in Hadramaut zurück. Im fernen Asien schaffte er es, einen kleinen Laden zu eröffnen und zwei weitere indonesische Frauen zu heiraten. Sein Sohn tat das gleiche, und beide schickten regelmäßig Geld nach Hause, damit die Familie in Hadramaut Land für die vielen Söhne und Töchter erwerben konnte. Mit diesem Grundkapital machte sich der in Hadramaut verbliebene Sohn – Muhammads Vater – auf nach Tansania. Dort heiratete er Muhammads Mutter, eine Tansanierin. Sie eröffneten einen Lebensmittelladen in Daressalam. Als sie 1975 nach Hadramaut zurückkehrten, hatten sie wenig Glück. Der Vater endete als Träger am Bau in der jemenitischen Hafenstadt Maqalla. Damals wohnten sie alle in dem Haus eines Cousins, wo zu allem Überfluß noch die Kinder von Muhammads Onkel in Indonesien dazukamen. Ihr Vater hatte sie zurück in die Heimat geschickt, damit ihnen in alter Tradition eine stilechte Hadramauter Ausbildung zuteil würde. „Das war totales Chaos“, erinnert sich Muhammad. Die einen sprachen nur Indonesisch, während sich die anderen in Suaheli unterhielten. Am Ende lernten dann alle Arabisch. Die zwei Cousins wanderten dann nach Saudi-Arabien aus, während einer von Muhammads Verwandten in Tansania sich nach Oman aufmachte. Heute hat Muhammad Verwandte in Hadramaut, Indonesien, Tansania, Saudi-Arabien und in Oman.

In den Straßen der Hadramauter Innenstadt sind Cafés oder Restaurants mit dem Namen Kenia oder Tansania keine Seltenheit. Am Gewürzmarkt von Sayun, umweht von Curry-, Kumin- und Kardamomdüften, sprechen die Alten bis heute Suaheli. Auch die indonesische Knabberei Krupuk ist keine Seltenheit. In den Bürgerpalästen der Sadah wird fast ausschließlich indonesisch gekocht. Nasi-goreng gehört zu den Leibgerichten. Für die „Indonesierung“ der Hadramauter Küche sind nicht zuletzt die vielen indonesischen Frauen verantwortlich, die mit ihren zurückkehrenden jemenitischen Männern hierherkamen. Ein außenstehender Mann bekommt diese allerdings nie zu sehen. Wie alle anderen Hadramauter Frauen laufen sie, mit ihrem Tschador bedeckt, oft sogar mit schwarzen Socken und Handschuhen bekleidet, durch die Straßen.

Auch in der Architektur hinterließ das ständige Kommen und Gehen seine Spuren. Tarim ist ein bekanntes Zentrum islamisch-schafiitischer Gelehrsamkeit. Hier ließen die Familien der Sadah ihre großen Paläste errichten. Der Reichtum der Stadt ist unübersehbar. Ostasiatische Stilelemente verschmelzen in Tarim mit traditionell jemenitischer Bauweise. Mancherorts spricht man vom „javanischen Barock“ der Paläste.

Die Sprache der Sadah sei von vielen indonesischen Wörtern durchsetzt, schildert Al-Saqqaf. So antworten sie an schlechten Tagen auf die arabische Frage kif haalak (wie geht's) mit einem indonesischen susu (nicht so gut). Auch für Schuhe, Fahrrad oder ihre Kopfbedeckung bevorzugen sie das indonesische Wort. Ihren Lendenschurz nennen sie sarun. In manchen Häusern wird fast ausschließlich Indonesisch gesprochen. Viele der Rückwanderer beherrschen keine andere Sprache mehr. „Früher“, verrät Al-Saqqaf, „haben wir in Singapur die Kinder der Chinesen als Diener gekauft und dann hierhergebracht. Die konnten natürlich auch kein Arabisch.“

Manchmal blicken die ostasiatischen Rückkehrer auf die afrikanischen Auswanderer herab. Dabei schimmern die alten Hadramauter Klassengegensätze zwischen der Elite der Sadah und dem Rest der Bevölkerung durch. „Die ostasiatischen Auswanderer haben Zivilisation nach Hadramaut gebracht, während die afrikanischen Migranten nur Kaffee trinken und Qat kauen“, sagt Al-Saqqaf.

Die hinterwäldlerische Traditionsverbundenheit des Wüstentals steht im strengen Gegensatz zur Mobilität seiner Einwohner. Abdallah Rawazir kam vor drei Jahren aus Uganda zurück. Seitdem machen ihm die verschleierten Frauen zu schaffen. Wenn er in den Ferien auf Kosten seines dortigen Großvaters nach Uganda fährt, dann herrsche dort vollkommene Freiheit zwischen Männern und Frauen, vertraut er mir zu später Stunde an, als wir nur noch zu zweit auf der Matte sitzen. Hier kenne er noch nicht einmal die verhüllten Frauen in der Nachbarschaft.

Eigentlich, sagt er, würde er gerne nach Uganda zurückgehen. Sein Großvater stelle sich aber gegen diesen Wunsch. Er handelt damit ganz in der Logik der Hadramautis. Ein Teil der Familie muß immer die Stellung im Tal halten. Das liegt zum großen Teil daran, daß sie dem Frieden in ihren neuen Ländern nicht trauen. Manchmal zu Recht. Mit dem somalischen Bürgerkrieg machten sich Tausende Somalis auf, um übers Meer den südlichen Jemen zu erreichen. Viele von ihnen sind jemenitischen Ursprungs. Die jemenitische Regierung lies aber nur diejenigen einreisen, die noch Verwandte im Jemen nachweisen konnten. Der Rest schmachtet seitdem in einem Lager in der Hafenstadt Aden. Oft ist es auch eine ökonomische Logik, die hinter dem Festhalten an der Heimat steckt. Abdallahs Großvater importiert Salz vom Jemen nach Uganda. Abdallahs großer Bruder arbeitet als dessen Handelsagent im Hafen von Aden.

Vor dem größten Hotel von Sayun stehen mehrere Luxusautos Marke Landcruiser mit Nummernschildern aus Saudi-Arabien, Dubai oder Abu Dhabi. Ein Teil der Sadah war in den letzten zehn Jahren von Ostasien in die Golfstaaten emigriert. Nun sind sie hier auf Kurzurlaub, um ihre Wurzeln wiederzufinden, wie sie sagen. In Wirklichkeit versuchen sie wohl eher neue Investitionsmöglichkeiten im Tal auszuloten. Mit der jemenitischen Einheit vor drei Jahren und dem Ende des sozialistischen Experiments Südjemen erhofft man sich unter den reichen Handelsfamilien große Dinge. „Wenn die Leute erst mal der neuen Situation trauen, dann wird sich das Tal auf Dauer wieder zum wohlhabendsten Teil des Jemen entwickeln“, prophezeien die Hadramauter. Betrachtet man die vorzüglichen Geschäftskontakte mit Ostasien und Afrika, dann steht dem nichts entgegen.