■ Agnes Heller: Die Welt nach dem Ende des Kommunismus
: Der Westen als Phantom

Hat der Westen gegenüber den neuen Demokratien, die zur Zeit aus den Ruinen des Kommunismus erstehen, eine besondere Verpflichtung? Im Westen antwortet darauf die Mehrheit mit einem zögernden und an viele Bedingungen geknüpften Ja. Die ehemaligen Bürger des Breschnew-Imperiums dagegen erfreuen sich zur Abwechslung einmal des glücklichen Zustands annähernder Einstimmigkeit. In letzter Zeit jedoch mischen sich in das früher volltönende Ja der Untertöne der Desillusionierung, der Verzweiflung, Feindseligkeit und Verachtung. Politiker würden eine größere Torheit begehen als üblich, wollten sie diesen beiden getrennten Meinungsbündeln – die potentiell auf Kollisionskurs liegen – weder Beachtung noch Analysen widmen. Denn hier eröffnet sich, wenn sie unbeachtet bleibt, eine neue Konfliktzone der nachkommunistischen Welt.

Der erste Schritt zur Interpretation der beiden unterschiedlichen Texte aus Ost und West besteht in einer weiteren einfachen Frage: An welches Subjekt richtet sich der (östliche) Appell, wer liefert die anscheinend zögernde Antwort? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: natürlich an den Westen. Aber auch die oberflächlichste Prüfung macht deutlich, daß „der Westen“ lediglich der begrifflich- geopolitische Mythos eines Protagonisten des Kalten Krieges ist, ein Mythos, der seine Geltung verloren hat, seit der Kommunismus zusammengebrochen ist. Zunächst einmal stand hinter diesem Begriff niemals auch nur die geringste geographische oder kulturelle Identität, für die sich eine allgemeine Anerkennung oder Bestätigung gefunden hätte. Deshalb wurde er auch häufig durch einen noch sinnloseren Ausdruck ersetzt: „die freie Welt“. Wenn „dem Westen“ qua Definition die gleiche Ausdehnung wie der „antikommunistischen Welt“ zugeschrieben wird – noch die sinnvollste räumliche Beschreibung –, dann bezieht er offensichtlich auch solche Länder und Weltgegenden ein, die weder geographisch zum Westen gehören noch sich selbst als seiner Kultur zugehörig betrachten und die diese Bezeichnung nur bedingt und für die Dauer des großen Konflikts akzeptierten.

Japan bietet vielleicht das beste Beispiel. Zudem lehnten die Gegner des „Westens“ das ihnen zugeordnete epitheton ornans „östlich“ von vornherein ab. Mao war der einzige bedeutendere kommunistische Politiker, der eine Zeitlang die Vorstellung übernahm, der Osten rüste sich zum Entscheidungskampf mit dem Westen. Aber für dieses neue Experiment fand er nie eine größere Gefolgschaft. Eher verwiesen die kommunistischen Theoretiker mit selbstverständlicher Geste auf die Ursprünge ihrer Theorie: auf die große Krise der westlichen Zivilisation im 19.Jahrhundert. Es handelte sich bei diesem Etikettenstreit an beiden Polen um keine bloße terminologische Haarspalterei; in diesem Kampf ging es um durchaus pragmatische Fragen, die sich auf die entscheidenden Interessen globaler Machtpolitik bezogen. Mit der Durchsetzung des Begriffs „Westen“ wollten die eigentlich westlichen Mächte deutlich machen, wo der harte Kern der großen Allianz zu finden war. Die Peripherie hatte zu folgen.

Die Peripherie, die Jahrzehnte später manchmal ebenso mächtig oder noch mächtiger wurde als das Zentrum, signalisierte mit ihrer Zurückhaltung, daß ihre Billigung der gemeinsamen Bezeichnung wie auch der darin implizierten gemeinsamen Verantwortung nur bedingt und von begrenzter Dauer war. Innerhalb der großen Allianz verbarg der Etikettenstreit die Auseinandersetzung über die Besetzung der jeweiligen Rollen von „Zentrum und Peripherie“. Gegenüber dem Feind ging es um das Copyright für den einzigen universalistischen Titel. „Der Westen“ bezeichnete traditionell die Heimat der einzigen politischen und kulturell universalistischen Weltsicht, die mit Selbstvertrauen und gutem Gewissen den Versuch wagen konnte, auf der ganzen Welt eine bestimmte Kultur und Lebensweise zu verbreiten und durchzusetzen. Das Etikett „westlich“ wurde so zu einem wertvollen Besitz, auf dem einer der Bewerber bestand und den der andere sich zu verschaffen trachtete.

Das „Wesen“ der globalen Konkurrenz ließe sich auch mit Hilfe des Vokabulars holistischer Weltanschauungen beschreiben. In diesem Falle würden wir über den Zusammenstoß zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ diskutieren. Einer der beiden Kontrahenten, der Kommunismus, der in der Rüstung seiner aus dem 19.Jahrhundert ererbten Ideen auftrat, verwendete die Art Sprache tatsächlich ohne zu zögern. Für den Kommunismus waren die Produktivität, das Wachstum, der Wohlstand, kurz: die wirtschaftlichen Leistungen (zusammen mit der wichtigen Nebenfrage der Eigentumsverhältnisse), die zählten und qua einer „Produktionsweise“ das gesamte soziale Universum definierten. Der andere Kontrahent weigerte sich jedoch immer, den gegenteiligen Ausdruck „Kapitalismus“ als Bezeichnung für sich selbst zu verwenden. Als Grund für diese Zurückhaltung ließe sich der schlechte Ruf des Kapitalismus im 19.Jahrhundert anführen, dem die Frühsozialisten eine abwertende Bedeutung verliehen hatten.

Diese Hemnmung hatte jedoch tiefere Gründe. Der Gegner dachte nicht in Begriffen holistischer Erklärungen, und angesichts seiner sehr heterogenen Zusammensetzung konnte er sich das auch gar nicht leisten. Die Verteidigung des Systems des freien Marktes war zwar für jedes Mitglied der großen Allianz wesentlich. Aber sie erschöpfte nicht die Liste der geschützten Güter. Für Amerikaner war die Verfassung, für Japaner die Wahrung der Tradition von ebenso großer Bedeutung. Die Verallgemeinerung ihrer unterschiedlichen Ansichten erfolgte lediglich von außen: durch den Kommunismus, der sich als Bedrohung sämtlicher geschützter Güter begreifen ließ. Der Zusammenhalt der Allianz beruhte daher auf der Negation, nicht auf einer monolithischen Selbstbestätigung. Daher – in Ermangelung enes Besseren – die Bezeichnung „westlich“.

Als der Lärm der Schlacht jedoch verklungen war, verschwand das Konstrukt „westlich“ ebenso schnell wie sein Gegenüber, wenn auch mit dem wichtigen Unterschied „westlichen“ Siegesbewußtseins. Innerhalb eines Augenblicks erwies sich der stolze, aber irreführende Name „Westen“ als das, was er tatsächlich war: die Fiktion des Kalten Krieges. Seine Mitglieder, deren Integration in die „westliche“ Einigkeit häufig einiger Nachhilfe bedurft hatte, machten ihre ursprünglichen verborgenen Vorbehalte, ihre bloß bedingte Bindung und ihre Entschlossenheit, ihren eigenen Weg zu gehen und sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern, bemerkbar.

Wenn sich nun die neuen Demokratien dem „Westen“ auf der Suche nach Entschädigung für ihre Leiden, die ihnen früher angeblich zugesagt wurde, zuwenden, dann wenden sie sich an ein einstmals fiktives und inzwischen untergegangenes Subjekt, das ihre Ansprüche nicht befriedigen kann. Sie begegnen hier nicht einfach einem monumentalen Betrug, einem Fall unverantwortlich abgegebener Versprechungen, sondern einem veränderten Zustand der Dinge und dem Verschwinden eines – früher doch immerhin fiktiv existenten – globalen Subjekts.

Was frühere Mitgliedstaaten des „Westens“ in ehrlicheren Stunden heute den Antragstellern erzählen, liest sich etwa wie folgt: Der „Westen“ war ein nom de guerre für eine intern durchaus unterschiedlich zusammengesetzte Allianz, in der beträchtliche Teile niemals „westlich“ waren und daher auch niemals die Absicht hatten, sich auf die Art universalistischer Ansprüche und Verpflichtungen festzulegen, die „der Westen“ sui generis regelmäßig geltend macht. Insoweit der Sieg errungen wurde und ihr Feind zusammenbrach, erfüllten sie ihre Verpflichtung. Mehr als das kann kein neuer Anwärter verlangen, denn binden ist nur ein explizites Gelöbnis. Außerdem lag es im tieferen Interesse aller, einschließlich moderater und vernünftiger Sozialsten, daß der totalitäre Sozialismus, dieses monströse Kind der Moderne, angesichts dieser Herausforderung zusammenbrach und unterging. In diesem Sinne sind heute alle Sieger. Vielleicht würden sie erwähnen, daß sie auf den Sieg nicht vorbereitet waren – er kam als unvermuteter Segen, aber auch als neue Last. Denn ihre gesamte politische und soziale Vorstellungswelt war auf die Dauerhaftigkeit des globalen Konflikts ausgerichtet gewesen, und in dieser Erwartung gab es keinen Raum für ausdrückliche Empfehlungen einer neuen, nachkommunistischen Weltordnung.

In gewissem Sinne wissen auch sie nicht, was mit einer postkommunistischen Welt anzufangen sei, die sich nicht länger als „Westen“ beschreiben läßt. Treten daher die neuen Demokratien mit ihren Bedürfnissen und Ansprüchen an den „Westen“ heran, so tun sie damit zweierlei zugleich: Sie wenden sich an ein untergegangenes Subjekt, und sie versetzen sich durch ihr eigenes Handeln in die Position einer selbsternannten Dritten Welt. Die erste Haltung ist unmöglich, die zweite überaus selbstschädigend. Zur gleichen Zeit entgeht ihnen die grundlegende Tatsache: Wir leben in einer Welt ohne Vormund. Jedoch, und hier sind die Antragsteller im Recht: es ist aber auch keine Welt ohne globale Verantwortung.

Die Autorin ist ungarische Philosophin und Sozialwissenschaftlerin, lehrt an der „New School for Social Research“ in New York.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Meinhard Büning.