Genetische Erosion

Aufruf zum Erhalt der biologischen Vielfalt auf dem Welternährungstag / Ein Viertel der Arten ist laut FAO bedroht  ■ Von Wolfgang Löhr

Streit um das „gemeinsame Erbe der Menschheit“. Während die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) mit dem Motto des diesjährigen Welternährungstages, „Die Vielfalt der Natur – ein wertvolles Erbe“, eine Neuauflage der Rio-Diskussion liefert, stellen Umwelt-, Bauern- und entwicklungspolitische Gruppen die Frage nach den Eigentumsrechten der genetischen Ressourcen.

Nach Angaben der FAO ist die genetische Vielfalt der landwirtschaftlich genutzten Pflanzensorten um 75 Prozent geringer als zu Beginn des Jahrhunderts. Diese genetische Erosion wird sich fortsetzen: Ein Viertel der etwa 300.000 Arten wird in den kommenden 30 Jahren bedroht sein, warnte FAO-Generaldirektor Edouard Saouma. Dafür machte er hauptsächlich die Umweltzerstörung und das Bevölkerungswachstum verantwortlich. Kritiker werfen der FAO jedoch schon seit langem vor, daß sie an dieser Entwicklung nicht unschuldig sei. Sie war es, die zusammen mit den Agrarforschungszentren die sogenannte Grüne Revolution mitgetragen hat, mit der neue Hochertragssorten in die Landwirtschaft eingeführt wurden. Der Mehrertrag ist mit großen Schäden an der Umwelt erkauft worden und hat zu einem enormen Verlust an genetischer Vielfalt geführt.

So bauten zum Beispiel vor fünfzig Jahren die indischen Bauern und Bäuerinnen noch rund 30.000 verschiedene Reissorten an. Heute werden auf einem großen Teil der Anbaufläche nur noch zwölf Sorten verwendet. Ob Weizen, Mais oder Kartoffeln, bei vielen Nahrungspflanzen ist die Sortenvielfalt ähnlich geschrumpft. Was damit unwideruflich verloren ist, kann noch gar nicht richtig eingeschätzt werden. Um neue Eigenschaften wie Krankheits- oder Dürreresistenz in die Nutzpflanzen einkreuzen zu können, waren die Pflanzenzüchter bisher auf die weniger ertragreichen, aber nicht so empfindlichen Landsorten angewiesen.

Ein großer Teil der genetischen Ressourcen ist in den vergangenen Jahrzehnten von den internationalen Agrarforschungszentren eingelagert worden. Über 90 Prozent der Pflanzen kommen in den tropischen und subtropischen Regionen vor. Aber mehr als die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Erbmaterials ist Miges Baumann von der Schweizer Organisation Swissaid zufolge in den Genbanken der Industrienationen eingelagert. Auch bei den Genbanken in den südlichen Ländern, wie zum Beispiel dem Internationalen Reisforschungszentrum (IRRI) in Mexiko oder dem Internationalen Mais- und Weizenforschungsinstitut (CIMMYT) auf den Philippinen konnten sich die Industrienationen bisher nach der Devise „gemeinsames Erbe der Menschheit“ frei bedienen.

Seit die Länder des Südens immer häufiger mit Patentansprüchen aus den Industrieländern konfrontiert werden, wird nicht nur die Forderung nach Kompensationsleistungen für den Gentransfer aus dem Süden immer lauter. Auf einer der größten Demonstationen in Indien protestierten Anfang des Monats über 500.000 Bauern und Bäuerinnen gegen die Patentierung von Pflanzen und Tieren. Sie befürchten, daß sie zukünftig auf Saatgut, das ursprünglich aus ihrer Heimat stammt, Patentgebühren an die Saatgutkonzerne aus den Industrieländern zahlen müssen.

Im Anschluß an den Protestumzug startete der indische Bauernverband das Third World Network und mehrere prominente indische Wissenschaftler eine internationale Kampagne, mit der sie die Patentierung des Neem-Baumes verhindern wollen. Ihr Protest richtet sich insbesondere gegen das US- amerikanische Unternehmen W.R. Grace, das mehrere Patentanträge auf verschiedene Inhaltsstoffe dieses Baumes gestellt hat. Auch beim Europäischen Patentamt im München liegen mehrere Anträge vor, nach Mitteilung der Grünen im Europäischen Parlament unter anderem von dem Pharmakonzern Rohm und Hass. Dieser Antrag soll kurz vor der Entscheidung stehen.

Samen, Blätter und Öl des Neem-Baumes werden seit langem in der traditionellen indischen Heilkunde als Antiseptikum und zur Behandlung von Lepra verwendet. Zudem werden Extrakte des Neem-Baumes in der Landwirtschaft als Pestizide eingesetzt. Grace ist bereits mit Neem-Pestiziden, die unter den Produktnamen Margosan-O und Bioneem gehandelt werden, auf dem internationalen Markt vertreten. Die Inder befürchten nun, daß sie den Neem- Baum nicht mehr nutzen dürfen, wenn Grace mit seinen Patentanträgen durchkommt.