Auf der Suche nach dem Pudel – entlang der Bismarckstraße

■ Einar und sonst keiner: Schleefs vierstündige „Faust“-Premiere mitternachts – vor dem Schiller Theater

Laut Wetteramt dümpelten Samstag nacht die Grade um die Null herum. Viel zu frostig, um auch nur eine Sekunde länger draußen zu verweilen. Die Tiefkühlnacht gab einen Vorgeschmack auf die, die uns noch drohen: verwaiste Straßen allüberall, kein Mensch wagt auch nur einen Augen-Blick für eventuelle Flirts. Alle wollen nur das eine: ins Warme!

Hey, Moment mal. War da nicht was, das heißt einer, das heißt mindestens 40, die sich nicht einfrieren ließen? Aber ja doch! Einer hieß Einar, mit Nachnamen Schleef. Wer ihn immer noch nicht kennt, hat selbst Schuld, da können wir jetzt auch nicht mehr nachhelfen. Beim besten Willen nicht.

Also Schleef, der Regisseur. Der stotternde Phantast. Der Bühnenanarcho. Das Genie. Der Sprachakrobat. Der Quälgeist. Der Rastlose. Der Teufel. Der Ästhet.

Für seinen Wankelmut ist Schleef bekannt. Daß man sich nicht immer und unbedingt auf ihn verlassen kann: ein alter Hut. Seine Schauspieltruppe, die er als „meine Familie“ bezeichnet, kann Arien davon singen. Diesmal jedoch hielt er, was er versprochen hatte. Schleef hatte, trotzig, wie er es liebt, versprochen, die Premiere des Faust, geplant für den 16. Oktober im Schiller Theater, werde planmäßig über die Bühne gehen. Nun geschah es aber, wir erinnern uns, daß das Schiller Theater seine Pforten vor zwei Wochen für immer schloß. Was Schleef nicht besonders interessierte. Erstens findet er das Theater auch grottenschlecht, und zweitens fand die Premiere ja statt. Und zwar vor dem Schiller Theater. Auf den Treppen, auf dem Rasen, nachts um zwölf. Und fast in voller Länge. 1:0 für Schleef! 1:0 für seine Truppe! Für seinen Chor, für Martin Wuttke, für Margarethe Broich.

Vier Stunden archaisch in Szene gesetzte Splitter aus Urfaust, Faust I und Faust II. Die Männer und Frauen in Wehrmachtsmänteln, die wir schon aus „Wessis in Weimar“ kennen, die Stimmgabel kettengleich um den Hals gelegt, schwarze Skifahrerwollmützen für die Frauen, den Männern Fackeln in die klamme Hand. Vier Stunden deklamieren, säuseln, schmachten, flehen, beten und bitten, heulen und kotzen, sich auskotzen. Und alles zäsiert, dem Sprachduktus gegenläufig. Aber voller Sensibilität für den Faust. So, und nur so, läßt sich Faust anhören, läßt er sich sprechen. Ohne Pathos. Mit viel Gefühl.

Und Wuttke, zwischendurch sich warmrauchend, drehte voll auf. Suchte den Pudel nicht nur auf der Treppe, er suchte ihn entlang der Bismarckstraße, rief nach ihm so laut, daß es fünf Straßenzüge zu vernehmen war. Und die achtspurige Tonspur der Bismarckmagistrale: Nie hatte sie so wenig gejuckt wie vorgestern nacht.

Bestimmt tausend Menschen stierten im Halbrund aufs Schiller- Theater-Portal, auf den entschlacktesten Faust, den Berlin je zu Gesicht bekommen hat. Einen Faust, den diese kulturelle Wüste namens Hauptstadt gar nicht verdient hat. Weil sie ihre Besten vergrätzt, wo sie nur kann. Siehe Kresnik.

Irren Blickes irrlichterte Martin Wuttke alias Faust alias Mephisto auf dem Open-air-Rund mal geduckt, mal aufrecht. Pfiff, mit zwei Fingern am Gaumen, seine Soldateska herbei. Und Margarethe Broich, Kaiserin und Faust zugleich: tiefes Timbre, große Haltung.

Die Inszenierung, dichtete AP sich zurecht, soll einer Bestattungszeremonie geglichen haben. Lüge! Lüge! Lüge! Selten so lebendiges Theater gesehen, Herr Kollege AP-Korrespondent Ralf N., selten so geniale Spielkunst betrachtet.

PS: Und wenn alles gutgeht, und wenn Heiner Müller seinen Geschäftspartner Peter Zadek, der Schleef doof findet, überreden kann, dann, ja dann: sehen wir Schleefs Fäuste im Berliner Ensemble. Thorsten Schmitz