Serie: Die neuen Quartiere (6. Folge) / Im Südosten Berlins bietet Altglienicke Platz für 40.000 Einwohner / Der Charakter des Stadtteils mit seinen Einzelhäusern und einer Großsiedlung wird sich deutlich verändern Von Thies Schröder

Die unvollendete Stadt

Die Bewohner Altglienickes machen sich Gedanken über „Außerirdische“. So nennen sie ihre neuen Nachbarn. Die „Außerirdischen“ haben an der Schönefelder Chaussee in dem einzigen fertiggestellten Bauabschnitt einer in den 80er Jahren geplanten Großsiedlung Altglienicke Quartier gefunden. Die Straßen dieser Siedlung sind nach den Sternen benannt. Saturnring und Marswinkel, Venus- und Siriusstraße wirken wahrscheinlich überall auf der Erde deplaziert. Besonders aber in Altglienicke, wo man seine Straßen bisher nach Teutonen und Germanen, nach Quitten und Birnen oder nach Molchen und Kröten benannt hat, ist Bodenständigkeit ein hoher Wert.

Ausgerechnet Altglienicke wird nun, noch vor den großen Wohnungsbauvorhaben im Norden Berlins, zu einem Forschungsfeld der „Verflechtung unterschiedlicher Siedlungsstrukturen“ im Rahmen des „Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus“. Schon 1989 hatten viele der Altglienicker ihrem wachsenden Unmut gegen die Planwirtschaft durch den Protest gegen die Großsiedlung in ihrer Nachbarschaft Ausdruck verliehen. Etwa 500 Meter entfernt und heute auf Brandenburger Gebiet liegend, gab es schon in den 70er Jahren einen Ansatz komplexen Wohnungsbaus. Diesen vor den Fenstern und die Bauarbeiten im Ohr, wandte man sich entschieden gegen die Fortsetzung der Arbeiten. Nach Schüttung der Fundamente wurde die Baustelle 1989 stillgelegt.

Heute drehen sich auch am Wochenende wieder Kräne zwischen den Kleinsiedlungshäusern. Wohnungen in Berlin sind Mangelware, ihre schnelle Entwicklung hat politische Priorität. Am Rohbau der ersten Gebäude für 600 Wohnungen ist die Richtkrone schon wieder verrottet. Weitere Planungen werden ab 1994 umgesetzt. Nicht mehr Teile einer Großsiedlung sind hier im Bau, sondern Gebäude des „postkomplexen Wohnungsbaus“. Auf diese Formel haben sich der Senat, der Bezirk Treptow, Architekten und Wohnungsbaugesellschaften mit der „Pega“, der „Planungs- und Entwicklungsgesellschaft Altglienicke“ geeinigt. Diese koordiniert im Auftrag der Senatsbauverwaltung die Planungen.

Eine solche Koordination für den Wohnungsbaustandort Altglienicke ist dringend nötig. Zu sehr strebten Vorhandenes und die ehemaligen wie die aktuellen Planungen auseinander. Der Ortskern selbst wurde mehrfach überbaut. Fünfgeschossige Gründerzeitbauten stehen zwischen verfallenden Bauernhöfen. Siedlungen der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts schließen sich an und leiten über zu den „Dünnsiedlungen“ aus kleinen Einfamilienhäusern, die immer wieder von unbebauten Flächen unterbrochen werden. Keine Phase der Wohnungsbauentwicklung Berlins wurde hier zu einem geschlossenen Gesamtbild vollendet.

Heute wird im Dorfkern ein erhebliches Nachverdichtungs- und Umstrukturierungspotential (ca. 1.600 Wohnungen) gesehen. Vorgesehen ist, den Dorfkern aus dem städtebaulichen Entwicklungsgebiet herauszunehmen und in ein Sanierungsgebiet umzuwidmen. Schwieriger wird die Verdichtung der „Streusiedlungsgebiete“. Eine hochverdichtete Bebauung in Zeilenbauweise auf freien Flächen wird hier aufgrund gewinnträchtiger Bodenverwertung gewünscht, würde jedoch die vorhandene Struktur der Gebiete empfindlich stören. Wichtiger wäre die Ausnutzung des Nachverdichtungspotentials zum Beispiel durch Grundstücksteilung. So würde auch die angestrebte Mischung von Eigentumsbildung und sozialem Wohnungsbau ermöglicht.

Auf diese Mischung zwischen Wohnungsbauträgern und Gebäudetypen wird in Altglienicke Wert gelegt. Die „Pega“ weiß, daß in einer Teilstadt, die von 15.000 auf 40.000 Einwohner wachsen wird, eine einheitliche Formensprache der Gebäude nicht angebracht ist. Um so wichtiger ist die Festlegung von städtebaulichen Prinzipien, wenn zukünftig eine teilstädtische Identität auch in der Vielfalt vermittelt werden soll.

Planungsvorgaben und die stadträumliche Lage Altglienickes lassen bisher an einer solchen Identität eher zweifeln. Von Süden drängt der Flughafen Schönefeld an das Quartier heran. An der Stadtgrenze weisen Bauschilder auf Absichten der Nachbargemeinden in Brandenburg hin, Wohnungssuchende anzulocken und Arbeitsplätze zu bieten. Für Altglienicke konnte man auf eine Proklamation der Mischung von Wohnen und Arbeiten verzichten. Denn im Norden bieten sich entlang des Teltowkanals und auf dem zukünftigen Produktions- und Dienstleistungsstandort Adlershof Arbeitsstätten an. Gute Voraussetzungen für ein neues Viertel! Doch kann dieses Viertel in Zangenlage zwischen den expandierenden Standorten auch zerrieben werden. Schon jetzt stellt im Osten die autobahngleich ausgebaute B 96 zum Flughafen Schönefeld eine Barriere zum Naherholungsschwerpunkt an der Dahme dar. Für den ehemaligen Grenzstreifen, den Übergang zu dem stadtstrukturell ähnlichen Siedlungsgebiet Rudow ist eine Autobahnplanung im Gespräch. Die Grünachse, durch die das neue Viertel mit dem Landschaftsraum verbunden werden sollte, steht zur Disposition. Ein übriges tut der Reichsbahngraben, ein Teilstück des Eisenbahnringes, der quer durch Altglienicke läuft, bisher nur an wenigen Stellen zu überwinden ist und so das geplante Stadtviertel in zwei Teile schneidet.

Altglienicke ist ein Quartier am Rande der Stadt, aber kein typisches Stadtrandquartier. Denn die Nähe zum Umland ist nur eingeschränkt erfahrbar. Die Stadt muß an dieser Stelle aus sich selbst heraus attraktiv werden, um nicht ein Produkt der Wohnungsnot, sondern ein lebenswertes Viertel zu sein. Voraussetzungen dafür sind im Hinblick auf das Image Altglienickes gegeben. Viele der potentiellen Neubewohner aus den Großsiedlungen, aber auch aus dem Süden Berlins kennen Altglienicke als „grünen Ort“. Vor allem Rudower, die in den letzten Jahrzehnten ihr Haus ausgebaut und ihr Grundstück immer wieder geteilt haben, möchten in Altglienicke noch einmal von vorn anfangen. Die für die Planungskoordination verantwortlichen Büros „Planwerk“ und „Becker Giseke Mohren Richard“ legen Wert auf Strukturen, die ein positives Image langfristig erhalten und verbessern. Drei Schwerpunkte sollen hier helfen:

– Bebauungsdichte und -höhe werden einer Vorstadt entsprechend in der Regel vier Geschosse nicht überschreiten.

– Den einzelnen Quartieren zugeordnete Parks werden als grüne Zentren die Infrastrukturzentren im Straßenraum ergänzen und untereinander verknüpft Spazierwege bieten.

– Ein Straßenraster wird die neuen Ansiedlungen gliedern und den Unterschied zwischen öffentlichem Straßenraum und privaten Höfen und Gärten erkennbar halten.

Gerade in einer solchen Straßenstruktur sieht C.W. Becker das verbindende Element des Gebietes über unterschiedliche Bebauungsstrukturen hinweg. Die Fehler des komplexen Wohnungsbaus, die auch in Altglienicke durch eine Vernachlässigung des öffentlichen Straßenraumes deutlich werden, sollen nicht wiederholt werden. Bisher realisierte Versuche einer Wohnumfeldverbesserung sind zu einfallslos, um das Manko der halböffentlichen Räume beheben zu können.

Ob mit diesen wenigen Prinzipien die „Weiterentwicklung einer Großsiedlung in randstädtischer Gemengelage“ gelingen kann, wie es das begleitende Forschungsvorhaben des Bundesbauministeriums und der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung formuliert, ist auch den Planern unklar. „Erst im nachhinein werden wir beurteilen können, was an Integration von komplexem Wohnungsbau, Vorort- und Einfamilienhausbebauung wirklich möglich war“, betont Rainer Bohne, der Leiter der „Pega“. Schwierigkeiten sieht er im Bereich des Verkehrs: Zwar ist Altglienicke über die S-Bahn an die Zentren Berlins angebunden, die Realisierung eines Regionalbahnhofes wurde jedoch auf unabsehbare Zeit verschoben. Entsprechend stellt sich das Problem des Autoverkehrs. Parkplätze werden in großem Umfang benötigt, Tiefgaragen nicht mehr finanziert. Der in den Überblicksplänen meist als Freifläche erkennbare Straßenraum wird vor allem Parkplatz sein.

Die Frage nach einem Leitbild für die Neuansiedlungen will Rainer Bohne nicht beantworten. „Vorstadt oder Gartenstadt sind unklare Begriffe, unter denen jeder versteht, was er eben möchte.“ Eindeutige Traditionen Altglienickes gibt es nicht, sie lassen sich also auch nicht weiterentwickeln. „Für uns ist es wichtig, die umbauten und offenen Räume zu schaffen für einen Vorort, der sich langfristig zu einem eigenen sozialen Gefüge entwickeln wird.“ Die Arbeit der „Pega“ soll 2000 beendet sein. „Bis dahin müssen die Siedlungen auf den Weg gebracht sein, ein Leitbild kann im nachhinein definiert werden.“