Wie der Zufall so spielt

Bayer Aspirin Leverkusen — FC Schlappe 05 5:1 und MSV Sensen-Duisburg — Beinfach Frankfurt 1:0  ■ Aus Leverkusen und Duisburg Bernd Müllender

Ach, Schalke. Da holt sich der Tabellenletzte einen neuen Trainer und – fängt sich gleich die höchste Saisonniederlage. Kassieren sieben Gegentore, von denen zwei, fälschlicherweise, nicht anerkannt wurden. Aber auch 1:5 ist happig, gibt Anlaß zur Trauer für die blau-weiße Fußballwelt, sorgt für Hohn und Spott aller anderen und bringt Charly Neumanns Tränendrüsen auf Hochtouren. Der neue Coach von Schalke, Jörg Berger, hatte denn auch „ein sehr extremes Spiel gesehen“.

Klug gesagt. Und Berger, gekleidet mit einer optimistisch grellbunten Krawatte mit – nachgezählten – 30 abstiegsverhindernden Punkten (Symbolik! Aberglaube!), hatte recht. War schon extrem, denn es hätte auch, so verrückt das klingen mag, umgekehrt ausgehen können oder zumindest 3:3 oder 5:5. Denn die hemmungslos offensiven Schalker erspielten sich, zeitweise beängstigend überlegen, gegen den – wie jedes Jahr – viel zu hoch gehandelten Bayer- Club die Mehrzahl der Torchancen.

Aber sie verloren. Weil es Fußball ist. Weil dabei jedes noch so ansehnliche Offensivbemühen erfolglos ist, wenn es in der Abwehr nicht stimmt. Wenn man innerhalb von knapp sieben Minuten vier Tore kassiert (wovon drei zählten), wenn einer wie Yves Eigenrauch keine Erholung bekommt und in den entscheidenden Szenen alles falsch machen darf und wenn Torwartkandidat 1 (Lehmann) einen Kullerball hochlustig durchflutschen läßt und dann Kandidat 2 (Riese Gehrke, 2. Halbzeit) mit den langen Greifern weniger hoch kommt als der um über einen Kopf kleinere Paulo Sergio mit eben jenem gleich neben, besser unter ihm.

Fußball ist von seinem Wesen her konservativ, immer gleich und latent berechenbar in seiner ganzen Unberechenbarkeit. Und es sperrt sich gegen jede sinnvolle Katalogisierung von Gerecht und Ungerecht. So auch Freitag abend bei Frankfurts erster Saisonniederlage – 0:1 beim MSV. Der Duisburger Neuling hatte zehn gnadenlose Sensenmänner auf dem Feld, die sich der weit überlegenen Eintracht mit 90minütiger Inbrunst entgegenwarfen und sensten und grätschten und mitleidslos wühlten und rackerten und ... Rücksichtslos gegen sich selbst, bis zur Erschöpfung, fair (keine Karte) und hocheffektiv. Chancen (Uwe Bein, wie kläglich) hatte die Eintracht, um 5:1 zu gewinnen.

Hatte sie das einseitige Match demzufolge zu Recht verloren – weil Chancen nicht genutzt? Unglücklich – weil doch zweifelsfrei besser? Weil – ja warum? Das weiß dann keiner. Die Trainer Lienen und Toppmöller einigten sich auf ein „letztlich vielleicht nicht einmal unverdient“. Toppmöller: „Normalerweise hätten wir all die Chancen kaltlächelnd reingemacht ...“ Aber was ist schon normal? Der Ball rollt eben mal ins Tor und mal nicht. Alles Zufall. Und eine Sensation war der MSV-Sieg auch nicht. Seit den späten sechziger Jahren gewinnt Duisburg regelmäßig, wenn ein Tabellenführer an die Wedau kommt.

Der Balltretersport ist, wie er ist. Neues setzt sich selten durch. So wie beim Leverkusener Bayer, wo man sich kosmetisch viel Mühe gibt, um das Image des Retortenclubs loszuwerden. Da wollen die Konzerngewaltigen Stimmung im Stadion machen – und foltern das Publikum mit einem unerträglich lauten Vereinslied, das mit dem Charme einer Aspirin-Tablette daherkommt. Eine Mädchenhopsgruppe (Sportdeutsch: cheer leaders) muß sich zum Einlaufen der Kicker als Spalier aufbauen. Und im Presseraum schenken sie neuerdings normales Pils statt des lange Leverkusen-typischen Alkfrei- Bieres vom Faß aus, vermutlich damit die Berichte über Leverkusens nüchterne Spielweise weniger nüchtern ausfallen mögen.

Was nutzt es? Nix. Bayer spielt, trotz manch gelungener Füßelei des momentweise genialen, dann wieder (Defensivarbeit!) indisponierten Bernd Schuster emotionsarmen Angestelltenfußball. Effizient zwar, aber leidenschaftslos. Lieber mal die Millionenknochen zurückziehen – der reservierte fünfte Platz ist bei der Versammlung an Stars zu Saisonende auch so zu schaffen. Selbst ein Paradiesvogel wie Stepanovic kann die geschäftsmäßige Lethargie nicht abstellen. Ihm war am Samstag etwas Besonderes aufgefallen: Daß sich „alle Spieler gefreut hatten nach den Toren“. Was im Umkehrschluß heißt, daß sie es sonst nicht immer tun.

Nur im Detail bietet die Kickwelt Überraschendes, Pfiffiges. Auf Bernd Schusters Leistung angesprochen, sagte Jörg Berger kühl: „Der Jiri Nemec hat ein ganz großes Spiel gemacht.“ Und die Schalker Fans, an die 6.000, boten in ihrer Ratlosigkeit über den königsblauen Niedergang bislang unbekannte Selbstironie. Nach Anderbrügges Tor in letzter Minute forderten sie lautstark eine Ehrenrunde und trumpften in der zurückhaltenden Leverkusener Fußballwelt mit dem schaurigen Choral auf: „Wir sind die Ruhrpottkanacken, lalalaa ...“

Das ist Schalke – und solches Schalke muß ewig leben. Das gilt um so mehr, je weniger man sie leiden kann. Und wenn sie doch einmal endgültig bankrott sind, rufen wir zur Solidaritätsspende für Charly Neumanns letzte Packung Papiertaschentücher auf.

Bayer 04 Leverkusen: Vollborn - Foda - Wörns - Fischer, Becker (67. Hapal), Schuster, Lupescu, Kree, Sergio (80. Stammann) - Thom, Kirsten

FC Schalke 04: Lehmann (46. Gehrke) - Güttler - Eigenrauch, Prus - Luginger, Scherr, Nemec, Borodjuk, Müller, Anderbrügge - Mulder (76. Deering)

Zuschauer: 22.900; Tore: 1:0 Kirsten (20.), 2:0 Sergio (22.), 3:0 Kirsten (27.), 4:0 Sergio (69.), 5:0 Thom (81.), 5:1 Anderbrügge (89.)