Wie groß ist das Restrisiko wirklich?

Panische Reaktionen der Bevölkerung auf die Blut-Aids-Affäre / Berliner Aids-Zentrum spricht von jährlich maximal fünf bis zehn HIV-Übertragungen durch Blutprodukte  ■ Von Manfred Kriener

Patienten verschieben Operationstermine, Frischoperierte sind in Panik, Unfallopfer lehnen Transfusionen ab: Die Auswirkungen der Blut-Aids-Affäre sind in vielen Krankenhäusern spürbar, ängstliche Nachfragen häufen sich. „Die Leute sind verwirrt“, stellt nicht nur der Sprecher des DRK- Blutspendedienstes, Heinz Schmitt, fest. Seit fünf Tagen schiebt Schmitt Nonstop-Telefondienst und versucht gegenüber den Medien die Relationen wieder geradezurücken. Bisher mit wenig Erfolg. Die Panik hält sich hartnäckig. Auch das Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamts (BGA) versucht Aufklärungsarbeit zu leisten. Es bezifferte die Zahl der HIV-Übertragungen durch Blut und Blutprodukte auf jährlich fünf bis zehn. Ein kleines, unvermeidbares Restrisiko? Oder können die Ansteckungsgefahren noch weiter minimiert werden?

Bei den Transfusionen wird das Risiko vom BGA nach wie vor mit eins zu dreihunderttausend bis eins zu drei Millionen angegeben. Die große Spannweite resultiert aus der unterschiedlichen Herkunft der Spenden. In den Metropolen ist das Aids-Virus bekanntlich stärker verbreitet als in der Provinz. Das DRK spricht von einem mittleren Ansteckungsrisiko von eins zu einer Million. An dieser Einschätzung hat sich auch nach dem Skandal um die sogenannte Geheimliste mit 373 angeblich verschwiegenen Fällen nichts geändert. Bis auf Ausnahmen datieren nämlich alle Infektionen der Liste aus der Zeit vor Oktober 1985, als die Blutspenden noch nicht auf HIV getestet wurden.

Bei Blutplasma-Präparaten, die vor allem von Blutern regelmäßig eingenommen werden, aber auch von „normalen“ Krankenhauspatienten, ist das Übertragungsrisiko heute noch geringer als eins zu eine Million, weil die Präparate noch zusätzlich inaktiviert werden. Eine Zahl, die das Risiko quantifiziert, kann derzeit niemand nennen.

Im vergangenen Jahr hat das DRK 3,2 Millionen Blutspenden gesammelt. Dazu kommen 700.000 Spenden von anderen Hilfsorganisationen und von blutverarbeitenden Firmen. Das dabei gewonnene Vollblut wird in aller Regel in seine Einzelbestandteile aufgetrennt. Zum einen sind dies die Blutzellen (rote Blutkörperchen), zum anderen das Blutplasma. Das Dilemma: Blutzellen können nicht inaktiviert werden, weil alle bisherigen Verfahren ihre empfindliche Zellstruktur zerstören. Hier bleibt der HIV-Test auf absehbare Zeit die einzige Schutzbarriere. Dieser Test kann aber fehlerhaft sein, weil ein frischinfizierter Spender in den ersten Wochen nach der Ansteckung noch keine Antikörper in seinem Blut hat und deshalb nicht als „Positiver“ entdeckt wird. Auch Laborfehler sind möglich. Da Blutzellen nur kurze Zeit aufbewahrt werden können (maximal 30 Tage, aber dann ist die Qualität schon sehr schlecht), ist eine sechswöchige Quarantäne, um den Spender anschließend ein zweites Mal zu testen, bei diesen Blutkonserven nicht möglich.

Das Blutplasma, das aus einem Konglomerat von verschiedenen Eiweiß-Fraktionen besteht und unter anderem die Gerinnungsfaktoren eins bis dreizehn sowie Globulin und Albumin enthält, kann im ganzen eingefroren oder in seine Einzelbestandteile aufgetrennt werden. Sowohl Plasma als auch einzelne Plasmafraktionen werden gebraucht. Die als Konzentrat gewonnenen Einzelbestandteile wie zum Beispiel der für viele Bluter so wichtige Gerinnungsfaktor VIII werden ohne Ausnahme zusätzlich inaktiviert. Frischplasma als Ganzes wird dagegen häufig nicht inaktiviert, weil das Verfahren nach Auskunft des DRK sehr viel schwieriger und noch nicht überall „Stand der Technik“ ist. Bei nichtinaktiviertem Frischplasma wäre die sechswöchige Quarantäne sinnvoll, um bei den Spendern ein zweites Mal einen Test durchzuführen.

Um das bestehende Risiko weiter zu minimieren, ist die Auswahl der Blutspender wichtig. Beim Roten Kreuz sind sie relativ wenig risikobehaftet: Unter den 3,2 Millionen Spendern des vergangenen Jahres befanden sich gerade 30 HIV-Infizierte, die durch den Test entdeckt wurden. Der Aufruf an die Risikogruppen, dem Blutspenden fernzubleiben, hat offenbar Wirkung gezeigt. Anders als bei privaten Firmen, die 30, manchmal auch 40 Mark für eine Blutspende bezahlen, bekommen die Spender beim Roten Kreuz allenfalls eine Vesper und einen warmen Händedruck. Ein Fixer, der Geld für den nächsten Schuß braucht, geht bestimmt nicht zum Roten Kreuz.

Die EG-Direktive 381 verlangt schon lange, daß in Europa die nationale Selbstversorgung auf der Basis unbezahlter Spenden sichergestellt wird. Die Bundesrepublik ist diesem Appell bisher nicht nachgekommen. Der Berliner Ärztekammer-Präsident Ellis Huber hat deshalb vergangene Woche nochmals das Ende für alle bezahlten Spenden gefordert. Für einige Stammkunden wird dann eine erkleckliche Einnahmequelle versiegen. Sie gingen rund 30mal im Jahr zum bezahlten Aderlaß. Da die Industrie nur am Plasma interessiert ist und dem Spender die roten Blutkörperchen wieder zurückgibt, ist diese hohe Zahl an Spenden möglich.

Eine weitere Möglichkeit, das Risiko zu reduzieren, ist die Eigenblutspende. Bei planbaren Operationen – Musterbeispiel ist der Eingriff am Hüftgelenk – können Patienten vorab ein Depot mit Eigenblut anlegen und sind dann nicht auf fremde Konserven angewiesen. Dies empfiehlt sich ohnehin, weil Fremdblut immer Streß für den Körper bedeutet.

Auch die Reduzierung der Blutimporte könnte helfen, das HIV- Risiko zu verkleinern. Länder wie England, Holland oder Belgien haben die landesweite Selbstversorgung weitgehend realisiert. Belgien erlaubt zwar Importe, aber nur wenn das eingeführte Blut ausschließlich von unbezahlten Spendern stammt. Die Bundesrepublik führt derzeit im Jahr rund 500.000 Liter Plasma ein. Es kommt vor allem aus den USA, wo HIV stärker verbreitet ist und Blut häufig unter sozialen Randgruppen gesammelt wird, die höhere Infektionsrisiken haben. Daß eine landesweite Selbstversorgung grundsätzlich möglich ist, bestreitet niemand. Wenn in den nächsten Jahren wie erwartet der Anteil an gentechnisch hergestellten Faktor-VIII- Präparaten zunimmt, wird der Bedarf ohnehin zurückgehen.

(Siehe dazu Kommentar Seite 10)