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■ Günter Verheugen, Bundesgeschäftsführer der SPD, zu Löhnen und Renten im Osten und zur Strategie seiner ParteiDie Intelligenz ist auf dem Rückzug

taz: Herr Verheugen, die SPD streitet wieder einmal, diesmal um den Vorstoß Oskar Lafontaines zu den Löhnen und Renten im Osten.

Günter Verheugen: Da streiten wir jedenfalls um ein Thema, das die meisten Leute angeht und interessiert. Auslöser der Irritationen der letzten Woche war nicht das wirtschaftspolitische Programm, sondern Lafontaines analytische Bemerkungen zur Einkommensentwicklung im Osten, die gar nicht zu programmatischen Schlußfolgerungen führen sollten.

Doch die Öffentlichkeit versteht kaum, worum es eigentlich geht.

Was Oskar Lafontaine gesagt hat und ihm eine, wie ich finde, überzogene Kritik bei den ostdeutschen Landesverbänden eingebracht hat, ist in Wahrheit ja gar nicht umstritten. Es ist undenkbar, daß die Realeinkommen in den neuen Ländern in den nächsten Jahren genauso steil ansteigen wie in den letzten drei Jahren. Das haben auch andere vor Lafontaine schon gesagt, ich nenne nur Kurt Biedenkopf oder Wolfgang Thierse. Als problematischer wurde die Bemerkung zu den Renten empfunden, weil er – auch mit Recht – darauf hingewiesen hat, daß es im Westen als ungerecht empfunden wird, daß in Ostdeutschland die Frauenrenten höher sind. Das ist aber ein Ergebnis der Politik, die wir mitgetragen haben. Wir wollten, daß die Rentenformel in Ost und West gleichermaßen gilt, und wegen der anderen Rentenbiographie der Frauen in Ostdeutschland – 90 Prozent waren erwerbstätig – mußte diese Folge eintreten. Das Mißverständnis, die Irritation ist dadurch zustande gekommen, daß, verkürzt, die Botschaft angekommen ist, irgend jemand in der SPD wolle den Menschen im Osten etwas wegnehmen.

Regen sich die SPD-Politiker aus dem Osten nicht zu Recht auf, wenn ein führender Politiker ihrer Partei auf die Ungerechtigkeitsgefühle im Westen abstellt?

Ich fürchte, es macht überhaupt keinen Sinn, den Tatbestand zu vertuschen, daß es im Westen solche Gefühle gibt und daß wir uns zur Zeit von der inneren Einheit eher entfernen. Der Hauptgrund dafür sind die entscheidenden Fehler des Jahres 1990. Das Gefühl, daß der größte Teil der westdeutschen Arbeitnehmer zu sehr belastet wird, ist wirklich weit verbreitet. Und es wird immer stärker, weil zu den Problemen nach der Einheit die der Rezession und der Strukturkrise im Westen kommen. Notwendig ist, daß die Arbeitnehmer in Ost und West verstehen, daß es nicht um einen Verteilungskampf West gegen Ost gehen kann. Es geht in beiden Teilen Deutschlands um die gerechte Verteilung bei Lasten und Einkommen, zwischen denjenigen, die wenig, und denen, die viel haben. Da bin ich, wenn Sie so wollen, geradezu marxistisch. Wir wollen eine gemeinsame Strategie für Ost und West, zusammengefaßt unter dem Begriff nationaler Beschäftigungspakt. Das zentrale Problem ist das Defizit von mehr als fünf Millionen Arbeitsplätzen in Ost und West.

Ist diese Botschaft beim Publikum angekommen? Wie zufrieden sind Sie mit der Fähigkeit der SPD, eine gemeinsame Sprache für Ost und West zu finden?

Nicht sehr. Deshalb war eine meine ersten Taten als Bundesgeschäftsführer ja auch die Veränderung der Parteitagsplanung. Vorgefunden habe ich eine Planung, bei der das Thema deutsche Einheit als ein besonderes Thema nicht vorkam. Jetzt werden wir diese Frage zu einem tragenden Thema machen. Es wird eine ausführliche Diskussion geben, die in eine Botschaft mündet, die sich an die Menschen in den neuen und den alten Ländern gleichermaßen wendet. Das bereite ich derzeit mit Wolfgang Thierse vor. Die wirtschaftspolitische Diskussion, die für Ost und West in gleicher Weise wichtig ist, wird jedoch weiter geführt. In Wiesbaden beschließen wir Leitlinien. Im Regierungsprogramm, an dem wir noch arbeiten, werden wir präzise zu sagen haben, mit welchen Instrumenten die Massenarbeitslosigkeit schnell behoben werden kann und eher mittel- und langfristig die Strukturkrise unserer Volkswirtschaft. Dann stellt sich auch die Frage: Was müssen wir den Menschen zumuten? Wie müssen wir die Staatsfinanzen, wie das System der sozialen Sicherheit umbauen, um soziale Sicherheit und Gerechtigkeit wiederherzustellen und zu garantieren?

Was müssen Sie den Menschen denn zumuten?

Für viele wird es eine Zumutung sein, wenn wir sagen, daß in den nächsten Jahren reale Einkommenszuwächse nicht garantiert werden können. Es ist nicht möglich, daß wir nach dem Zustand, den die jetzige Regierung hinterläßt, in kurzer Frist zu einer durchgreifenden, umfassenden Verbesserung der Lebensverhältnisse kommen. Die andere mögliche Zumutung: die ökologische Umsteuerung, die nun wirklich keinen Tag mehr warten kann, nachdem zehn Jahre verlorengegangen sind. Für eine Übergangszeit kann auch sie mit höheren Belastungen in einzelnen Bereichen verbunden sein. Wir wollen uns allerdings um Ausgleich an anderer Stelle bemühen, zum Beispiel bei der Familienabsicherung.

Wird die SPD da nicht stark mit dem Problem der Fliehkräfte zu kämpfen haben?

Ich sehe das Problem sehr genau. Ich sehe aber auch, was die Hauptsorgen der Menschen sind. Die Hauptsorge heißt: Arbeitsplätze. Nicht nur im unteren Drittel, bis weit in Schichten der scheinbar sicheren Dienstleistungsberufe treibt das die Leute um. Ich glaube schon, daß diese Wahrheit vertragen wird: Einkommensentwicklung und staatliche Leistungen müssen sich dem Ziel unterordnen, sichere, stabile Arbeitsplätze zu schaffen.

Welche Wählerschichten nehmen Sie im Wahljahr 94 besonders ins Visier, und für welche ist Ihr Prinzip Hoffnung, die Arbeitsplatzfrage, entscheidend?

Das ist das einigende Band für nahezu alle, die nicht von Kapitaleinkünften leben können ...

Auch für die berühmten angegrünten Lehrer ...

Auf den öffentlichen Dienst, so will ich es mal nennen, trifft das natürlich nicht in dem Umfang zu. Aber bei denen erwarte ich ein klares soziales Verantwortungsbewußtsein und das Wissen, daß ihre Einkommen erwirtschaftet werden müssen und daß in einem Industrieland die produzierende Wirtschaft die Basis auch ihrer Gehälter ist. Sie spielen darauf an, daß in der SPD diese Schichten durch eine gewisse Überrepräsentanz die Beschlüsse in eine Richtung beeinflussen könnten, die sich von den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung entfernen. Bei den Grünen bin ich von einem ausreichenden Maß an ökonomischer Vernunft nicht restlos überzeugt, aber in der SPD sehe ich das Risiko nicht. Aber nun zum Wählermarkt. Der hat sich dramatisch verändert. Wer heute einen Wahlkampf plant, muß sich keine großartigen Gedanken mehr darum machen, wie er konkurrienden Parteien ein, zwei Prozent abjagen will. Die konkurrierenden Parteien haben diese Prozente nämlich längst nicht mehr. Die entscheidende Zielgruppe sind die mehr als 40 Prozent, die nicht mehr gebunden sind.

Ich will unter den vielen Gründen für diese Entwicklung an dieser Stelle einen hervorheben: die gesellschaftsverändernden Wirkungen der Politik der Kohl-Regierung. Die Linke hat sich damit erstaunlich wenig beschäftigt. Jetzt wird erkennbar, daß Verelendung, daß existentielle Probleme für viele Menschen entstanden sind. Deshalb wird es für diesen Wahlkampf ganz zwingend, eine verbindende Botschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Für uns bleibt die Schlüsselfrage, wie kann für eine größtmögliche Zahl von Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden? Ein selbstbestimmtes Leben fängt in einer Industriegesellschaft damit an, daß man für seine ökonomische Basis selber sorgen kann.

Wie sieht das Bündnis aus, das die SPD für die neunziger Jahre stiften muß?

Das ist deshalb eine ganz schwierige Frage, weil ein solches Bündnis – anders als 1969 – nicht durch eine Addition politisch organisierter Kräfte zu erreichen ist. Hier ist ein gesellschaftliches Bündnis nötig, in dem sich die Stärkeren und die Schwächeren verbinden. Dazu gehören natürlich die Gewerkschaften, aber eben auch Unternehmer, die Dienstleistungsberufe, die kritische Intelligenz. Letztere sehe ich leider eher auf dem Rückzug, sie führt Nachhutgefechte, viele haben sich verabschiedet. Der konservative Grundzug ist fast widerstandslos hingenommen worden ...

Die kritische Intelligenz würde einwenden, daß die SPD den konservativen Grundzug mitgemacht hat.

Wer befruchtet wen, wer beeinflußt wen? Ist es eine Partei, die das Denken der Gesellschaft beeinflußt, oder läuft das hauptsächlich umgekehrt. Ende der sechziger Jahre sind SPD und FDP von außen verändert worden. Sicher haben Asyl, Blauhelme und Lauschangriff zu Enttäuschungen geführt. Aber ich bin ganz zuversichtlich, daß wir zerrissene Netze wieder knüpfen können. Die Bereitschaft, es doch noch mal mit der SPD zu versuchen, ist relativ groß. Interview: Tissy Bruns

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